Mittwoch, 2. Januar 2008

Tragödie Pakistan

Von Joschka Fischer

Die Krise der islamischen Atommacht ist nicht nur politisch. Sie hat soziale und konstitutionelle Ursachen. So lange diese nicht beseitigt sind, droht die Eskalation

Politisch begann das Jahr 2008 fünf Tage vor seinem kalendarischen Anfang. Denn das Attentat auf Benazir Bhutto schließt nicht das Jahr 2007 ab, sondern eröffnet vielmehr die politische Krisenagenda des Jahres 2008. Dieser politische Mord, so ist zu befürchten, wird verheerende Konsequenzen für die Stabilität der Atommacht Pakistan und damit auch ihres Nachbarn Afghanistan haben.

Die US-Regierung hatte diplomatisch sehr viel in die Rückkehr von Benazir Bhutto nach Pakistan investiert. Die Führerin der Pakistanischen Volkspartei (PPP) sollte als Kandidatin der Opposition den für den 8. Januar 2008 angesetzten Parlamentswahlen einen demokratischen Charakter verleihen.

Dem angeschlagenen Militärregime unter Präsident Pervez Musharraf sollte damit eine neue demokratische Legitimation verschafft und zugleich die Modernisierung des Landes, gemeinsam mit Musharraf, vorangebracht werden.

Neben dem Irak ist Pakistan, gemeinsam mit Afghanistan, gegenwärtig die zweite Hauptfront der USA im so genannten „Krieg gegen den Terror.“ Pakistan ist in diesem „Krieg“ - nach Saudi-Arabien - einerseits wichtigster regionaler Bündnispartner der USA, andererseits ist es zugleich eine der gefährlichsten Brutstätten des islamistischen Terrorismus.

Mit der Ermordung Benazir Bhuttos ist die amerikanische Politik einer demokratischen Öffnung und eines damit einhergehenden Legitimationsgewinns für die Herrschaft Präsident Musharrafs gescheitert. Alternativen sind nicht in Sicht.

Präsident Musharraf hatte zuvor mittels eines zweiten Militärputsches einen absehbaren Einspruch des obersten Gerichtshofs des Landes gegen seine Wiederwahl aus dem Weg geräumt und damit eine weitere Amtszeit als Präsident seines Landes gesichert. Die USA hatten ihn wie auch Bhutto zu einem Machtkompromiss „überredet,“ der Musharraf die Präsidentschaft, Benazir Bhutto aber nach den Wahlen die Rolle der Premierministerin hätte bringen sollen. Ob dieses Konstrukt tatsächlich jemals funktioniert hätte, wird man nun niemals mehr wissen. Man darf dies aber mit guten Gründen bezweifeln.

Mit der Ermordung Benazir Bhuttos starb eher eine Hoffnung auf Modernisierung und Demokratie als eine mögliche Realität, denn auch an ihrer Person und Politik gab es auf Grund der mit ihr als zweimaliger Premierministerin des Landes gemachten Erfahrungen ernste Zweifel. Sie war aber die einzige Hoffnung auf einen Ausweg aus der pakistanischen Krise, und das allein zählt.

Ein denkbarer Versuch, Benazir Bhutto nun durch den Führer der die kommenden Wahlen boykottierenden Muslimliga, den früheren Premierminister Nawaz Sharif zu ersetzen, wäre allerdings noch weniger Erfolg versprechend, da eine Modernisierung des Landes mit Sharif noch fragwürdiger sein dürfte als dies mit Benazir Bhutto der Fall gewesen wäre.

Ohne Benazir Bhutto und die durch sie verkörperte Hoffnung tut sich in Pakistan jetzt ein Abgrund auf, denn Musharraf und sein Militärregime verlieren zunehmend an Legitimation.

Die eigentlichen Gewinner dieser Tragödie werden die radikalen Islamisten sein.

Jenseits der terroristischen Destabilisierung und des wachsenden Legitimationsverlustes der Militärregierung sind es vor allem drei strukturelle Faktoren, die eine Modernisierung und Demokratisierung des Landes gegenwärtig nahezu aussichtslos erscheinen lassen:

1) Nach 1977 betrieb der Militärdiktator Zia ul-Haq systematisch die Islamisierung des Landes. Pakistan begann sich in jener Zeit entscheidend zu verändern. Damals entstand jene Verbindung eines antiwestlichen Nationalismus mit einem radikalen politischen Islam, die bis heute nicht nur Teile des Militärs und vor allem des allmächtigen Geheimdienstes ISI (Interservice Intelligence) beeinflusst, sondern auch den Nährboden für eine wachsende Radikalisierung der islamistischen Gruppen und Parteien liefert.

Aus dieser Verbindung sind jene Gespenster der pakistanischen Krise hervorgegangen, die das Land bis heute heimsuchen und die offensichtlich täglich stärker werden. Es handelt sich dabei nicht nur um Taliban und al Quaida, sondern auch - und vor allem - um sehr einflussreiche, antiwestliche Kräfte im ISI und Militär. Sie halten das Land bisher im Griff.

2) Sozial wird das Land nach wie vor von einer Schicht quasi-feudaler Großgrundbesitzer dominiert, die sich bisher erfolgreich jeder Reform widersetzt haben. Der eigentliche Grund für die Gründung Pakistans, so lautet eine verbreitete These, sei nicht der Konflikt zwischen Hindus und Moslems und damit die Religion gewesen, sondern vielmehr die Angst der Großgrundbesitzer in Sind und Punjab vor einer Landreform nach der Unabhängigkeit von Großbritannien. Bis heute hat sich an diesen spätfeudalen Eigentumsverhältnissen auf dem Land nahezu nichts geändert. Das Ausbleiben der Landreform ist ein entscheidendes Modernisierungshemmnis.

3) Die Armee hat sich seit der Gründung Pakistans zu einem Staat im Staate entwickelt, der nicht nur faktisch über das Machtmonopol verfügt, sondern zugleich auch mittels zahlreicher eigener Unternehmen das Land wirtschaftlich beherrscht. Diese Tatsache macht einen Rückzug der Armee in die Kasernen und eine Teilung der Gewalten fast unmöglich, denn es geht eben nicht nur um die politische Macht. Ein solcher Rückzug würde darüber hinaus den ökonomischen und sozialen Status des Militärs gefährden und käme einer kleinen sozialen Revolution gleich.

In dieser Gleichsetzung von Staat, Wirtschaft und Militär in Pakistan liegt auch ein wesentlicher Grund (nicht der alleinige!), weshalb es in dem jahrzehntelangen Konflikt mit Indien um Kaschmir bisher nicht zu einem Kompromiss gekommen ist. Die pakistanische Armee braucht offensichtlich diesen Konflikt mit dem großen Nachbarn, um ihre Rolle und Privilegien rechtfertigen und verteidigen zu können.

Während Indien sich seit der gemeinsamen Unabhängigkeit zu einer Demokratie mit einer funktionierenden Gewaltenteilung entwickelt hat, in der das Militär keine politische Rolle spielt, gilt für Pakistan das genaue Gegenteil. Pakistan entwickelte sich zu einer Militärdiktatur, in der gilt, dass es völlig egal ist, ob das Militär direkt herrscht oder eine Zivilregierung im Amt ist, denn die Entscheidungsgewalt bleibt letztlich immer bei den Militärs.

Pakistan ist heute eine der Hauptquellen des islamistischen Radikalismus, ja Terrorismus - und zugleich Atommacht. Allein diese Kombination ist ein Albtraum. Jetzt aber wird die zugrunde liegende soziale und konstitutionelle Krise sichtbar. Denn in seiner gegenwärtigen Verfasstheit scheint das Land nur noch über schwache Abwehrkräfte gegen eine weitere Radikalisierung und Chaotisierung zu verfügen.

Der eigentliche Kern der aktuellen pakistanischen Krise ist der galoppierende Legitimationsverlust des Militärregimes bei gleichzeitig fehlender demokratischer Modernisierungsalternative. Der Mord an Benazir Bhutto hat diese pakistanische Tragödie für alle Welt sichtbar gemacht.

Wer darauf vertraut, dass das Militär das Land auch weiter im Griff halten werde, sei an die Erfahrungen mit der Militärdiktatur von Reza Pahlewi in Iran erinnert. Aus diesem Beispiel kann man lernen, dass die Macht der Bajonette mit schwindender oder gar völlig ohne Legitimation nicht von Dauer ist. Auf Pahlewi folgte die islamische Revolution.

Ein kurzfristiger Ausweg aus der pakistanischen Tragödie ist angesichts dieser Fakten nur schwer vorstellbar. Eine oberflächliche Demokratisierung, die ansonsten aber die strukturellen Ursachen der pakistanischen Krise unangetastet lässt, wird nicht ausreichen, um die Krise zu entschärfen.

Bei meinem letzten Besuch in Indien vertrat ein kluger indischer Journalist, der selbst Muslim ist, die These, dass in Pakistan nicht eine Demokratisierung an erster Stelle zu stehen habe, sondern dieser eine Landreform und eine neue Verfassung vorausgehen müsse. Denn der Kern der pakistanischen Krise sei eine konstitutionelle und soziale Krise und ohne deren Lösung würde jede demokratische Reform scheitern müssen.

Aber wenn die oben angeführte These zutrifft (was ich fürchte), dann wird ein Ausweg aus dieser Krise in überschaubarer Zeit fast unmöglich sein. Es spricht daher alles dafür, dass das Militärregime fortdauert, dass in seinem Schatten die islamistische Radikalisierung weiter voranschreiten wird und die Atommacht Pakistan zunehmend in die Unregierbarkeit und ins Chaos abrutschen wird. Ob dagegen eine Strategie des Containments als Alternative eingesetzt werden kann, wird eine der gleichermaßen drängenden wie schwierig zu beantwortenden Fragen des kommenden Jahres sein.

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