Die Krise in Pakistan und die Gefahren in Afghanistan bilden einen Gesamtkomplex. Neue Initiativen vom Typ Petersberg sind nötig - jetzt, und nicht erst nach der Wahl in den USA.
Es steht gegenwärtig nicht gut um Afghanistan. Die chaotischen Ereignisse in Pakistan werfen auch die Frage nach der Zukunft seines westlichen Nachbarn Afghanistan auf, das wie kein anderes Land in der Region von der Entwicklung in Pakistan beeinflusst werden wird.
Die Gefahr, dass sich beide Staaten zu einem geopolitischen schwarzen Loch von Destabilisierung und Terrorismus (mit brisantem nuklearem Risiko!) entwickeln, ist aus heutiger Sicht keineswegs mehr nur eine überspannte finstere Utopie.
Im Süden und Osten Afghanistans werden die Taliban militärisch stärker. Die Zahl der Selbstmordattentate und Sprengstoffanschläge hat sich überall im Land vervielfacht, und die Legitimation der Zentralregierung in Kabul unter Präsident Karsai hat weiter abgenommen. Der Aufbau der afghanischen Polizei hat sich (unter deutscher Führungsverantwortung, die mittlerweile von der EU übernommen wurde) zu einem Desaster entwickelt, der Rauschgiftanbau und -export haben ebenfalls kontinuierlich zugenommen, und in den umkämpften Gebieten stockt der Wiederaufbau.
Dennoch darf man bei all diesen negativen Entwicklungen das bisher Erreichte nicht vergessen. In weiten Teilen des Landes ist der Wiederaufbau vorangekommen und das Grauen von Krieg und Bürgerkrieg wurde dort nach mehr als zwei Jahrzehnten durch die westliche Militärintervention beendet.
In Afghanistan wurden über viele Jahre hinweg nicht nur die inneren Konflikte bewaffnet und auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen, sondern auch globale und vor allem regionale Machtkämpfe. Zudem war das Land über lange Zeit hinweg der Organisations-, Trainings- und Rückzugsraum der Terrororganisation al-Qaida. Ohne die militärische Präsenz von USA, Nato und UN und ohne die internationale Wiederaufbauhilfe würde das Land sehr schnell wieder zum Opfer von widerstreitenden regionalen Interessen und damit erneut von Krieg und Bürgerkrieg werden. Militärische Präsenz und Aufbauhilfe zu beenden hieße nicht nur, sehenden Auges eine erneute humanitäre Katastrophe in Kauf zu nehmen, sondern ebenso eine weitere regionale Destabilisierung und einen triumphalen Sieg des islamistischen Terrorismus.
Es geht also politisch wie auch humanitär um sehr viel in Afghanistan. Deswegen wird der Westen dort eines langen Atems bedürfen, denn das Land wird noch einen weiten Weg zurückzulegen haben, bis regional und national auch nur annähernd stabile, für die Mehrheit der Bevölkerung erträgliche Verhältnisse erreicht sein werden. Afghanistan wird daher für eine lange Zeit noch von internationalem militärischen Schutz und internationaler Wiederaufbauhilfe abhängen.
Afghanistan ist nicht Irak – noch nicht, muss man leider hinzufügen, wenn die Verantwortlichen in der Nato und vor allem in den nationalen Regierungen und Parlamenten die Dinge weiter in die falsche Richtung treiben lassen. Allerdings sind die Chancen nach wie vor gut, in Afghanistan erfolgreich zu sein, wenn man realistischen Zielen folgt: vor allem auf eine funktionierende Zentralregierung zu setzen, die das Land zusammenhalten kann; auf afghanische Sicherheitskräfte, die den Terror zurückdrängen können; und auf eine verstärkte Anstrengung zum Wiederaufbau, der alle Provinzen des Landes umfassen muss und auch auf mittlere Sicht den Bauern eine Alternative zum Drogenanbau eröffnen muss.
Anders als im Irak war der Krieg gegen das Talibanregime in Kabul nach dem 11. September 2001 unvermeidbar, denn dort befanden sich die Kommandozentrale und die Ausbildungszentren der Terrorgruppe al-Qaida. Für den Krieg gegen die Taliban bedurfte es keiner fingierten Kriegsgründe, und er fand eine einstimmige Unterstützung im UN-Sicherheitsrat sowie eine breite Billigung in der internationalen Öffentlichkeit.
Die Nato hat in Afghanistan die militärische Sicherung übernommen und zahlreiche europäische Staaten sind dort mit ihrem Militär im Einsatz. Mit dem Erfolg oder Misserfolg der Afghanistan-Mission des Bündnisses wird auch über dessen Zukunft entschieden. Afghanistan ist, gemeinsam mit dem Kosovo, der größte und wichtigste Einsatzort der Bundeswehr außerhalb Deutschlands, und ganz gewiss ist Afghanistan zugleich der mit Abstand gefährlichste Einsatzort für deutsche Soldaten.
Was sind nun die Ursachen für die anhaltende Verschlechterung der Lage in Afghanistan?
1) Afghanistan ist ein doppeltes Opfer jener katastrophalen Fehlentscheidung der Regierung Bush namens Irakkrieg. Kaum waren die Taliban aus Kabul vertrieben, setzte die Regierung Bush andere Prioritäten als die Befriedung und den Wiederaufbau des Landes. Mit dem Aufmarsch der USA gegen Saddam Hussein wurde Afghanistan zu einem vergessenen Nebenschauplatz. Militärische und finanzielle Ressourcen wurden aus dem Land am Hindukusch abgezogen und auf der Agenda der weltpolitischen Prioritäten wurde es zu einem nachrangigen Konflikt herabgestuft. Entsprechend mangelte es an Investitionen in die Sicherheit und in den Wiederaufbau des Landes. Der Preis für diese verfehlte Politik ist heute zu bezahlen.
2) Mit dem sich entwickelnden Desaster der USA im Irak begann man im wichtigsten Nachbarland Afghanistans, in Pakistan, die strategische Lage in der Region neu zu bewerten. Pakistan sah Afghanistan immer als seine Einflusszone an und betrachtet eine ihm freundlich gesonnene Regierung in Kabul als Teil seines nationalen Interesses. Mit dem Fall des Taliban-Regimes hat Pakistan aber diese Einflusszone und damit auch strategische Tiefe gegenüber seinem großen Nachbarn Indien verloren.
Die pakistanische Regierung wollte die mit der strategischen Schwäche der USA sich auftuende Möglichkeit nutzen, das für sie negative Ergebnis der US-Intervention im Nachbarland aus dem Herbst des Jahres 2001 zu ihren Gunsten zu revidieren. Dies führte zu einer faktischen Kündigung der Vereinbarung vom Bonner Petersberg, auf die der neue Regionalkonsens seit dem Sturz der Taliban gründete, und damit einhergehend zur Revitalisierung der Taliban durch den pakistanischen Geheimdienst ISI. Ohne diese Unterstützung hätten die Revolte der neuen Taliban niemals ihre heutige Stärke erreichen können.
3) Der Westen und vor allem die Nato sind unentschlossen und folgen keiner einheitlichen Strategie. Als die Taliban ihre Offensive im Süden Afghanistans begannen und innerhalb weniger Monate vor allem das kanadische Militär hohe Verluste erlitt, da war es ein großer Fehler der Nato gewesen, dass sie nicht sofort ge- und entschlossen reagiert hatte.
Stattdessen hielten zahlreiche europäische Mitgliedstaaten (vorneweg Deutschland und Frankreich) an ihren nationalen Vorbehalten fest, die auf nichts anderes hinausliefen als auf die Verweigerung der militärischen Solidarität und gemeinsamen effizienten Handelns. In der Region wurde diese Botschaft der Schwäche wohl verstanden. Hinzu kommen noch erhebliche Defizite beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte und bei der Größe der dringend benötigten Aufbauhilfe.
Als Kanada damals im Bündnis um Unterstützung bat, wurde durch das Festhalten der wichtigsten europäischen Mitgliedstaaten an ihren nationalen Einsatzvorbehalten zugleich die Gelegenheit vertan, im Bündnis eine Debatte herbeizuführen, welche die USA zu einem Überdenken ihrer bisherigen Militärstrategie hätten veranlassen können.
Wenn der Westen Afghanistan nicht ohne Not verloren geben will, so muss ein neuer regionaler Konsens unter allen Nachbarn erreicht werden. Dies wird nur unter der entschlossenen Führung des Westens auf einer neuen internationalen Konferenz im Petersberg-Format zu erreichen sein.
Pakistan (und nicht Iran) wird sich dabei als der entscheidende Stabilisierungs- oder Destabilisierungsfaktor für Afghanistan erweisen.
Zudem wird es dringend eines Nato-Gipfels bedürfen, der eine gemeinsame Strategie ohne nationale Vorbehalte festlegt. Die Bush-Regierung ist dazu bereits zu schwach, aber spätestens der nächste Präsident wird auf diesem gemeinsamen Vorgehen des Bündnisses bestehen. Zudem kann es keine gemeinsame erfolgreiche Afghanistan-Politik geben, ohne nicht über eine gemeinsame Politik gegenüber Pakistan zu verfügen. Daher wird die Frage, wie man in der Nato die Zukunft und Rolle Pakistans sieht, ebenso wenig ausgeklammert werden dürfen wie ein verstärkter indisch-pakistanischer Interessenausgleich in der Region.
Die Europäer wären klug beraten, für eine solche gemeinsame Strategie und ein neues Petersberg bereits heute die Initiative zu ergreifen und nicht abzuwarten, bis Washington das nach der Wahl eines neuen Präsidenten tun wird. Wer die Initiative ergreift, kann gestalten, wer hingegen sich wegduckt, der darf dann lediglich noch nachvollziehen, was andere ihm vorgeben werden.
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