Die alten Modelle der internationalen Politik haben ausgedient. Es entstehen neue Zentren und Abhängigkeiten. Joschka Fischer über einige Annahmen zum 21. Jahrhundert.
Der sich ankündigende Jahreswechsel bringt die üblichen politischen Rückblicke auf das ablaufende Jahr 2007 mit sich. Gerade für das Jahr 2007 aber empfiehlt sich ein etwas anderer Rückblick, der sich nicht in kalendarischer Folge auf die tagesaktuellen Ereignisse und Abläufe bezieht, sondern versucht, die strukturellen Veränderungen in den tieferen Schichten der internationalen Politik und Wirtschaft zu verstehen.
Unter diesem Gesichtspunkt war das Jahr 2007 überaus ertragreich, denn in ihm drängten strukturellen Veränderungen aus den tieferen Schichten der internationalen Entwicklung an deren Oberfläche und formten sichtbar und erfahrbar den politischen Alltag. Eine neue Weltordnung (oder besser Weltunordnung?) wird dadurch sichtbar und harrt der politischen Gestaltung.
In der alten Weltordnung galt die Formel, dass die Globalisierung vor allem zum Vorteil des Westens sein und dessen Vorsprung vor dem Rest der Welt weiter vergrößern würde. Zwanzig Prozent der Menschheit (vor allem im Westen und in Japan zuhause) genossen die Segnungen des Konsumkapitalismus, während 80 Prozent davon ausgeschlossen waren.
Diese Formel aus den siebziger Jahren gilt heute schon lange nicht mehr. Die bipolare Welt des Kalten Krieges ist verschwunden und auch die unipolare Illusion der alleinigen globalen Vorherrschaft der USA von den Jahren von 1989-2005 hat sich im Desaster des Irakkrieges, des gewaltigen amerikanischen Staatsdefizits, der Abwertung des Dollars und der Immobilien- und Bankenkrise verflüchtigt.
Selbst in neokonservativen Kreisen greift nunmehr die Einsicht um sich, dass ein amerikanisches Imperium keine wirkliche Option ist, weil dessen globale Größe selbst die Kräfte der mit Abstand nach wie vor mächtigsten und reichsten Macht der Gegenwart überfordern würde.
Stattdessen wird mehr und mehr sichtbar, dass die globalen Machtachsen von Wirtschaft und Politik sich von West nach Ost verlagern. Einige Beispiele? Der Nuklearkonflikt auf der koreanischen Halbinsel ist ohne das aktive Engagement Chinas heute nicht mehr zu lösen (zu Präsident Clintons Zeiten war das noch völlig anders gewesen). In Afrika ist China heute bereits ökonomisch wie politisch die dominierende Macht und eine nicht mehr zu übersehende Alternative zum Westen. So ist etwa der Konflikt um Darfur im Sudan ohne China und Indien, den beiden wichtigsten Investoren in die sudanesische Ölindustrie, nicht mehr zu lösen.
Indien ist nicht nur auf dem Subkontinent, sondern zunehmend auch in Afghanistan, Iran, Zentralasien und wird übermorgen am Persischen Golf zu einem unverzichtbaren und in nicht allzu ferner Zukunft zu dem dominanten politischen Spieler.
Die Energie- und Rohstoffmärkte verlagern sich ebenfalls von West nach Ost und die anhaltend steigenden Preise signalisieren diese Veränderung. Deutschland wird im kommenden oder übernächsten Jahr endgültig und wohl für immer seine Position als globale Exportmacht Nummer 1 verlieren. Ökonomisch löst China Japan als größter Gläubiger der USA ab, während zugleich der amerikanische Markt für das chinesische Wachstum der entscheidende Motor ist.
Hätte man vor fünfzehn Jahren diese gegenseitige Abhängigkeit der kapitalistischen Supermacht USA von der kommunistischen Führungsmacht China prophezeit, so wäre man schlicht ausgelacht worden. Heute ist diese unmögliche Abhängigkeit aber zur Realität geworden, und es lacht niemand mehr.
Auch die Debatte über den Klimaschutz hat diese neue Abhängigkeit in einer globalisierten Welt sichtbar gemacht. Das globale Wachstum von tendenziell sieben Milliarden Menschen droht zu einer Überforderung des Ökosystems Erde zu führen. Militärische und wirtschaftliche Macht zählen angesichts dieser Bedrohung wenig bis gar nichts, wenn es nicht gelingt, die Mehrheit der Staaten von einer aktiven Klimaschutzpolitik zu überzeugen und Wege zu finden, dass sie sich aktiv daran beteiligen. Dies wird aber einen kooperativen Interessenausgleich unverzichtbar machen.
Misslingt dieser, so werden die Folgen global massiv zu spüren sein. Mag sein, dass die Reichen und Mächtigen sich dann noch eine gewisse Schonfrist erkaufen können, aber innerhalb kurzer Zeit werden die Folgen globaler Klimaveränderungen alle treffen.
Und auch die Entwicklung des Terrorismus zeigt, dass es in einer globalisierten Welt kein „weit weg“ mehr gibt. Sicherheit im 21. Jahrhundert wird anders definiert werden, als in den Epochen davor. Sicherheit wird fortan sehr viel stärker von Entwicklung, der Herrschaft des Rechts, der Beachtung der Menschenrechte, funktionierender Wirtschaft und staatlichen Institutionen, von Freiheit und einer starken Zivilgesellschaft abhängen, als von den Rüstungsausgaben. Kooperation statt Dominanz wird auch in der Sicherheitspolitik mehr und mehr zum Prinzip werden müssen, wenn man Erfolge erzielen will.
Sicherheit wird zwar heute im Verhalten der Staaten zueinander noch immer im Wesentlichen auf der Grundlage ihrer Interessen und ihrer Macht definiert. Das „Gleichgewicht der Mächte“ gilt heute, nach dem Ende der „unipolaren Phase,“ wieder mehr denn je. Dennoch ist dieses Prinzip historisch erschöpft und für die Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts und seiner globalen Abhängigkeiten nicht mehr tauglich. Die USA unter der Regierung Bush haben dies exemplarisch und mit fatalen Folgen für ihre eigenen Interessen demonstriert. Dieser Widerspruch ist eine der Hauptursachen für die gegenwärtige Schwäche des internationalen Systems und seiner Institutionen.
Der Satz des früheren britischen Premierministers Palmerston, dass Staaten keine dauerhaften Freunde oder Feinde hätten, wohl aber dauerhafte Interessen, reicht unter den Bedingungen der Globalisierung eben nicht mehr aus. Mehr und mehr wird dieser Satz von der Tatsache überlagert, dass Staaten zudem dauerhafte gemeinsame Interessen haben, das heißt ihre jeweiligen nationalen Interessen nur noch in Abhängigkeit von anderen und im Konsens mit anderen verwirklichen können.
Damit transformiert sich aber der klassische Begriff staatlicher Souveränität in eine transnationale Dimension, die objektiv einen Zwang zur Kooperation nach sich zieht. Auf diesem sich in der Gegenwart herausbildenden neuen Grundprinzip wird die neue internationale Ordnung entstehen.
Wie lange es allerdings dauern und wie viele Krisen, ja Katastrophen es brauchen wird, bis diese objektiven Veränderungen im internationalen System auch subjektiv und institutionell nachvollzogen werden, kann man nicht vorhersagen. Man kann sich lediglich an gemachten Erfahrungen orientieren.
Als das alte Europa mit den ersten Schüssen des I. Weltkriegs unterging, da dauerte es schließlich bis 1989, ja genauer sogar bis 1999, bis zum Ende des Kosovokrieges, bis sich in Europa mit Ausnahme Weißrusslands ein dauerhafter Frieden, die Herrschaft des Rechts, Demokratie und Freiheit durchgesetzt hatten. Nur welch einen furchtbaren Preis hatten die Europäer im 20. Jahrhundert dafür zu entrichten! Man kann nur hoffen, dass das 21. Jahrhundert sich als klüger erweisen wird, auch wenn wenig dafür spricht, dass sowohl Menschen wie auch Staaten und Gesellschaften jemals aus Schaden klug geworden sind.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen