Montag, 10. März 2008

Blind in die Atomkrise?

Nukleare Abrüstung ist kein populäres Thema der Politik. Das könnte sich als verhängnisvoll erweisen.


In der Politik stimmt das subjektiv Wichtige mit dem objektiv Notwendigen nicht immer überein. Ganz besonders gilt dies gegenwärtig für die Ignoranz gegenüber einer der wahrscheinlich größten Bedrohungen, nämlich der Bedrohung durch Nuklearwaffen.

Als Außenminister Steinmeier vor wenigen Wochen auf der Münchner Sicherheitskonferenz auf dieses Risiko hingewiesen hatte und erneute Anstrengungen zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle gefordert hatte, da entsprach die Reaktion dem obigen Befund. Die Expertenrunde war nicht besonders interessiert und die breitere Öffentlichkeit in Deutschland nahm Steinmeiers Aufforderung wohl überhaupt nicht zur Kenntnis.

Bereits zuvor hatte sich in derselben Angelegenheit in den USA eine Gruppe sogenannter „elder statesmen“ – die ehemaligen Außen- und Verteidigungsminister George Shultz, Henry Kissinger, William Perry und der ehemalige Senator Sam Nunn - in einem gemeinsamen Artikel an die Öffentlichkeit gewandt. Unter der Überschrift: „Für eine Welt ohne Atomwaffen“ forderten sie einen fundamentalen Politikwechsel der USA in Richtung vollständiger nuklearer Abrüstung.

Dieser Artikel im Wall Street Journal war weniger bedeutsam wegen der darin enthaltenen Vorschläge, sondern sehr viel mehr wegen der Autoren, die sich den Vorschlag einer völligen nuklearen Abrüstung zu Eigen machten. Denn zumindest die drei ehemaligen Mitglieder verschiedener US-Regierungen während des Kalten Krieges waren bisher nicht dafür bekannt gewesen, dass sie sich für die völlige Abschaffung von Nuklearwaffen eingesetzt hätten.

Betrachtet man unter dem Gesichtspunkt der Nuklearrisiken die gegenwärtige internationale Lage, so kann man den Autoren nur voll zustimmen.

Denn erstens enthält das alte System der nuklearen Abschreckung, wie es vor allem in den USA und Russland seit dem Ende des Kalten Krieges überdauert hat, nach wie vor zahlreiche Risiken und Gefahren. Die Öffentlichkeit ignoriert heute zwar diese Tatsache weitestgehend, aber die Risiken sind dennoch existent.

Zwar wurden in den neunziger Jahren die vorhandenen Arsenale der beiden großen Nuklearmächte von ungefähr 65.000 Atomwaffen auf etwa 26.000 reduziert. Aber selbst diese Zahl ist schlichtweg unfassbar und jenseits jeder Rationalität. Hinzu kommen noch weitere rund 1000 Atomwaffen in den Händen der weiteren Nuklearwaffenstaaten.

Zweitens aber ist die Welt gegenwärtig dabei, ein neues nukleares Zeitalter zu betreten, das noch gefährlicher und teurer zu werden verspricht als die nukleare Abschreckung in den Zeiten des Kalten Krieges.

Die Konturen dieses neuen nuklearen Zeitalters sind bereits heute abzusehen: die Verbindung von Terrorismus und Nuklearwaffen; ein atomar gerüstetes Nordkorea; die Gefahr eines atomaren Rüstungswettlaufs im Nahen Osten, ausgelöst durch das iranische Atomprogramm; damit einhergehend eine Neudefinition von staatlicher Souveränität als „nuklearer Souveränität“, die mit einer massiven Ausweitung von kleinen und mittleren Nuklearwaffenstaaten einhergehen wird; ein möglicher Kollaps staatlicher Ordnung in der Nuklearmacht Pakistan; die illegale Weiterverbreitung von militärischer Atomtechnologie; die legale Weiterverbreitung von ziviler Nukleartechnologie und damit eine Vermehrung der „zivilen“ Atomstaaten mit allen weitergehenden Proliferationsrisiken; die Nuklearisierung des Weltraums und ein neuer Rüstungswettlauf zwischen den großen Atommächten.

Die Verantwortlichen in der internationalen Politik, an erster Stelle die beiden großen Nuklearmächte USA und Russland, kennen die bereits vorhandenen und die gegenwärtig neu hinzu kommenden Risiken nur zu gut. Um diese Risiken zu kontrollieren, einzudämmen oder gar ihrer Herr zu werden wurde allerdings nicht nur nichts unternommen, sondern ganz im Gegenteil wurde die Lage sogar noch verschärft.

Entscheidende Säulen des alten Rüstungskontroll- und Antiproliferationsregimes wurden entweder zerstört, wie der ABM-Vertrag, oder existenziell geschwächt, wie der Atomwaffensperrvertrag (NPT). Die Regierung Bush trägt hierfür die größte Verantwortung, denn sie hat mit der Kündigung des ABM-Vertrages nicht nur eine Schwächung des internationalen Kontrollsystems betrieben, sondern auch dem drohenden Zusammenbruch des Nichtweiterverbreitungsvertrages fast tatenlos zugesehen.

Die Weiterverbreitung von militärischer Atomtechnologie ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewiss eine der größten Bedrohungen für die Menschheit, vor allem, weil diese in terroristische Hände fallen könnte. Denn ein Nuklearwaffeneinsatz durch Terroristen würde nicht nur eine große humanitäre Tragödie nach sich ziehen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Welt über die Schwelle zum Atomkrieg treiben. Die Folgen wären ein Albtraum.

An zweiter Stelle in der Bedrohungsskala steht die nukleare Neudefinition von staatlicher Souveränität, denn diese würde nicht nur zu einer Vielzahl kleinerer, politisch höchst instabiler Nuklearmächte führen, sondern damit auch das Risiko der Weiterverbreitung in terroristische Hände erheblich vergrößern. Pakistan wäre dann kein Einzelfall mehr.

Um diesen und allen anderen bekannten Gefahren des neuen nuklearen Zeitalters wirksam und rechtzeitig entgegentreten zu können, bedürfte es jetzt einer internationalen Initiative zur Erneuerung und Verbesserung des internationalen Kontrollregimes, angeführt von den beiden großen Atommächten.

Das Signal zur Abrüstung und zur wirksamen Kontrolle muss von ganz oben, von den USA und Russland kommen, wenn es praktisch wirksam werden soll. Und an erster Stelle muss hier die Bereitschaft der Nuklearmächte stehen, ihre im Atomwaffensperrvertrag eingegangene Verpflichtung zur Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale auch tatsächlich umzusetzen.

Der NPT-Vertrag – einer der großen friedenssichernden internationalen Verträge über mehr als drei Jahrzehnte hinweg – beruht auf einem politischen Übereinkommen zwischen den wenigen Nuklearwaffenbesitzern und den vielen Staaten ohne Atomwaffen: Die Habenichtse verzichten auf Nuklearwaffen, während die Besitzer im Gegenzug ihre Arsenale vollständig abbauen. Leider wurde von dieser Übereinkunft nur der erste Teil erfüllt (und auch dieser nicht vollständig), während der zweite Teil der Übereinkunft noch immer seiner Erfüllung harrt.

Der NPT-Vertrag ist gleichermaßen unverzichtbar wie dringend überholungsbedürftig. Dieser zentrale Pfeiler der internationalen Nichtverbreitungskontrolle steht kurz vor seinem Kollaps. Die jüngste Überprüfungskonferenz im Mai 2005 in New York endete faktisch ergebnislos und war ein Desaster.

Eines der zentralen Defizite des Vertrages wird gerade im Nuklearstreit des Sicherheitsrates mit Iran gegenwärtig sichtbar: Der Vertrag erlaubt es nämlich, dass alle nuklearen Komponenten, die für eine militärische Nutzung notwendig sind – vorneweg die Urananreicherung - , unter den Regeln des Vertrages entwickelt werden dürfen, solange es nicht zu ihrer direkten militärischen Nutzung (Bau einer Atombombe) kommt. Damit trennt in den atomaren Schwellenstaaten aber lediglich noch eine einzige politische Entscheidung diese von einem militärischen Atomwaffenprogramm. Und eine solche „Sicherheit“ reicht nicht aus.

Zugleich hat mit dem iranischen Atomkonflikt ein altes Thema erneut an politischer Brisanz gewonnen, nämlich der diskriminierungsfreie Zugang zu Nukleartechnologie. Zu dessen Lösung wird es der Internationalisierung des Zugangs zu ziviler Nukleartechnologie bedürfen, verbunden mit der Schließung der oben erwähnten Sicherheitslücke unter dem existierenden NPT-Vertrag und wesentlich tiefer reichender Kontrollen für alle Staaten, die sich an einem solchen System beteiligen wollen.

Die Verantwortlichen in den Regierungen rund um den Globus kennen die Gefahren des neuen nuklearen Zeitalters und ebenso die meisten der notwendigen Antworten. Es mangelt aber am politischen Willen, weil die Öffentlichkeit in nuklearer Abrüstung und Rüstungskontrolle keine politische Priorität sieht. Genau dies muss sich deshalb ändern. Denn nukleare Abrüstung und atomare Nichtverbreitung sind keine Themen von gestern, sondern müssen heute praktisch Politik werden, wenn es morgen nicht hochgefährlich für alle werden soll.

Sonntag, 2. März 2008

Die neuen Regeln

Deutschland hat ein Fünfparteiensystem. Die SPD beginnt, sich darauf einzustellen. Der FDP und den Grünen wird ebenfalls nichts anderes übrig bleiben.

Die Landtagswahlen in Hessen und Hamburg haben sichtbar werden lassen, was sich seit Längerem angekündigt hatte, nämlich der Übergang vom bisherigen Vierparteiensystem der bundesrepublikanischen Demokratie zu einem Fünfparteiensystem (CDU und CSU werden hier als eine Partei betrachtet, was zwar nicht formal, wohl aber politisch zutrifft). Damit wurde zugleich auch die politische Ausgangslage für die Bundestagswahl im kommenden Jahr geklärt.

Dieser Übergang zum Fünfersystem kommt einer kleinen politischen Revolution gleich, weil sich dadurch die Grundparameter der Koalitionsbildung und der politischen Machtverteilung grundsätzlich ändern werden. Mit der zunehmenden Etablierung der Partei Die Linke in den westdeutschen Landtagen ist dieser Übergang zum Fünfparteiensystem eine Tatsache geworden, mit der langfristig gerechnet werden muss – definitiv für die Bundestagswahl 2009 und auch darüber hinaus.

Der Übergang vom alten Dreiparteiensystem zum Vierparteiensystem, der 1983 mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag begonnen hatte, war niemals ein solch fundamentaler Bruch, da er das vorhandene Parteiensystem lediglich in zwei Lager transformierte, die aber schon zuvor bestanden hatten. Das Fünfersystem hingegen bringt einen sehr viel tiefer und weiter reichenden Neuanfang.

Man hört jetzt allenthalben, dass Koalitionen den Inhalten zu folgen hätten, und das ist richtig. Aber genauso richtig ist es, dass, wenn die Inhalte dauerhaft neue Mehrheiten jenseits der Großen Koalition blockieren, sich dann entweder die Akteure aufeinander zu bewegen müssen oder dass diese Blockade eine andere Debatte anfachen wird, nämlich diejenige über eine Änderung des Wahlrechts.

Im Fünfparteienparlament werden die beiden traditionellen politischen Lager auf Bundesebene – Rot/Grün und Schwarz/Gelb – entweder ausgetrocknet, da sie keine kleine Koalition mehr bilden können. Denn solange Die Linke auf Bundesebene nicht regierungsfähig ist, blockiert diese fünfte Partei eine kleinkoalitionäre Mehrheitsbildung, sodass die Große Koalition zum Dauerzustand zu werden droht. Und auch in den westlichen Bundesländern werden kleine Koalitionen mit der Etablierung der Linken zwar nicht unmöglich, wohl aber immer schwieriger zu bilden sein. Für Ostdeutschland haben diese Lager eh noch nie gegolten.

Oder aber, zweite Möglichkeit, die Lagergrenzen werden in beide Richtungen überschritten. Und zwar entweder durch die FDP (rote Ampel) oder die Grünen (schwarze Ampel/Jamaika). Ein solcher Schritt wird inhaltlich jedoch nur schwierig zu machen sein und ist für die beiden kleinen Parteien zudem mit einem erheblichen Risiko verbunden.

Eine dritte Möglichkeit, nämlich die im Bundestag bestehende numerische Mehrheit des erweiterten linken Lagers (Rot-Rot-Grün), zu der es nach der jüngsten Bundestagswahl gekommen war, auch machtpolitisch zu aktualisieren, ist aus heutiger Sicht noch jenseits des politisch Machbaren.

Mit der Etablierung einer fünften Partei im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland wird die Bundestagswahl nicht mehr als Lagerwahlkampf erfolgreich zu führen sein, da es numerisch für die beiden Lager nicht mehr reichen wird. Zwar werden die Parteien den Wählerinnen und Wählern noch ihre jeweilige Lieblingspräferenz mitteilen, nur glauben wird ihnen diese niemand mehr. Insofern werden sich auch die klassischen Koalitionsaussagen erledigt haben.

Wer wird also mit wem in Zukunft Deutschland regieren? Diese zentrale politische Frage wird fortan wohl nicht mehr vorab zu entscheiden sein, sondern auf die Wahlnacht und die Feststellung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses vertagt werden. An die Stelle der Lager werden variable Konstellationen treten, die weniger vom erklärten politischen Willen der Beteiligten als vielmehr vom Wahlausgang abhängen werden.

Diese neuen Gesetze des Fünfparteiensystems werden zudem alle Parteien und ihr politisches Führungspersonal vor ungewohnte Herausforderungen stellen, welche die Gefahr eines Fehltritts mit möglicherweise fatalen Folgen für die jeweilige Partei mit sich bringen werden. Kurt Beck kann darüber gewiss ein garstig Lied singen.

Die Unionsparteien verfügen gegenwärtig im neuen Fünfersystem nur über zwei Optionen: die Große Koalition und Schwarz-Gelb (tatsächlich läuft dies aber 2009 im Bund nur auf die eine Option der großen Koalition hinaus). Die Union wird daher alles versuchen müssen, um erstens unter allen Umständen die stärkste Partei zu bleiben, denn nur dadurch kann sie sich das Kanzleramt und mithin ihre Machtposition in einer Großen Koalition sichern. Und zweitens muss sie ihre Optionen schleunigst vermehren. Auf Bundesebene heißt dies realistischerweise die „schwarze Ampel“. Beides sind allerdings schlechte Nachrichten für ihren Wunschpartner FDP.

Die SPD ist seit der vergangenen Bundestagswahl in fast allen aktuellen Umfragen deutlich schwächer als die CDU, verfügt aber im Gegensatz zur Union über mehr Koalitionsoptionen: Große Koalition, Ampel (Rheinland-Pfalz), Rot-Grün (Bremen) und Rot-Rot (Berlin). Die letztere Option kommt aber für den Bund 2009 noch nicht infrage. Also heißt die Machtperspektive der SPD für 2009 und jenseits der großen Koalition „rote Ampel“.

Auch die SPD wird in den kommenden Bundestagswahlen nichts zu verschenken haben und versuchen, ohne Rücksicht auf den kleineren Wunschpartner so stark wie möglich zu werden, für den Fall, dass sie doch wieder in einer Großen Koalition enden wird. Für den grünen Wunschpartner sind dies ebenfalls keine guten Nachrichten.

Ihr eigentliches Ziel für 2009 wird es aber sein (sofern sie auf Sieg und nicht auf Platz spielen wird, was angesichts der gegenwärtigen parteiinternen Kontroverse alles andere als entschieden ist), ihr Mehr an Optionen dann auch in einer SPD-geführten Koalition realisieren zu können. Dazu wird sie erstens mindestens eine funktionsfähige Dreierkoalition, nämlich die Ampel brauchen. Und zweitens – es wird oft vergessen, dass die Länder mittels des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken, mithin ein bundespolitischer Machtfaktor sind – muss die SPD im Gegensatz zur CDU die Mehrheit im Bundesrat zu ihren Gunsten ändern. Und das heißt nichts weniger, als Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün auch im Westen als akzeptierte Option durchzusetzen.

Verzichtet die SPD auf diese Öffnung, dann muss sie entweder auf ein Wunder hoffen, das nicht eintreten wird, nämlich dass die Linkspartei in absehbarer Zeit wieder verschwindet. Oder aber die Sozialdemokraten werden sich als Juniorpartner der CDU freiwillig in die ewige Gefangenschaft einer Großen Koalition begeben, und sich darin als Volkspartei endgültig auszehren. Im aktuellen Richtungsstreit in der SPD geht es daher schlicht um die Alternative: eigenständiger Machtanspruch oder Juniorpartner in der Großen Koalition, Sieg oder Platz bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr.

Die massiven Angriffe auf den Parteivorsitzenden der SPD aus seiner eigenen Partei erscheinen angesichts dieser Lage als bizarr kurzsichtig. Gewiss waren Timing und Vorgehensweise von Kurt Beck in der Causa Hessen alles andere als preiswürdig, aber in der Sache hat er völlig recht. Denn ohne eine Öffnung in Richtung Linkspartei wird die Zukunft der SPD im Fünfersystem sehr düster ausfallen. Und dass die SPD in Hamburg ohne Becks „Intervention“ wenige Tage vor der Wahl drei Prozent mehr Stimmen bekommen hätte, halte ich für schlichtes Wunschdenken.

Seit 1989/90 schleppt die SPD die Frage ungelöst mit sich herum, wie sie mit ihrem ungewollten Erbteil aus der deutschen Einheit, nämlich den ehemaligen Kommunisten der SED (später PDS) machtpolitisch umgehen soll. Isolieren oder einbinden? Die Unionsparteien und die Liberalen haben diese Frage für sich erst gar nicht erst öffentlich aufkommen lassen, sondern 1990 mit einem Federstrich ihre „Kommunisten“ aus den Blockparteien einfach übernommen und basta. Ganz anders verhielt sich dagegen die deutsche Sozialdemokratie.

In Ostdeutschland wurde sie auf Grund der Stärke der PDS recht früh in Koalitionen mit ihr gezwungen, wenn sie nicht in Großen Koalitionen oder in der Daueropposition enden wollte. Insofern musste sie mittels Koalitionsbildungen dort nachholen, was im Zuge der deutschen Einheit parteipolitisch versäumt worden war. Und diese Herausforderung besteht für die SPD bis zum heutigen Tag, gegenwärtig sogar mehr denn je.

Denn mit Gründung und anschließender gesamtdeutschen Etablierung der Linkspartei ist die Isolationsstrategie gescheitert. Zudem hat sich im Bundesland Berlin gezeigt, das seit mehreren Jahren von einem rot-roten Senat regiert wird, dass alle Befürchtungen von einer „Rückkehr des Sozialismus“ schlichter Quatsch sind. Ganz im Gegenteil steht der rot-rote Senat in Berlin für eine Politik der Haushaltssanierung, des Stellenabbaus im öffentlichen Dienst, der Umsetzung der Hartz-IV-Reformen und der Wirtschaftsfreundlichkeit, die man mit einigem Recht zutreffend als rechts von Rot-Grün charakterisieren kann. Von Sozialismus ist da weit und breit keine Spur zu finden.

Die letzten Landtagswahlen in Berlin haben zudem gezeigt, dass die PDS, einmal in der Verantwortung, nach vier Jahren in der Regierungsrealität erhebliche Stimmeneinbußen hinnehmen musste. Insofern erwies sich die Einbindungsstrategie aus sozialdemokratischer Sicht zumindest in Berlin als durchaus erfolgreich.

Die größten Schwierigkeiten und auch Risiken mit der „Neuen Deutschen Farbenlehre“ in der Politik dürften jedoch auf die bisherigen kleineren Wunschpartner der beiden großen Parteien zukommen, auf FDP und Grüne. Beide Parteien weisen unter diesem Gesichtspunkt eine erstaunlich große Schnittmenge an gemeinsamen Interessen im Fünfersystem auf:

Erstens verfügen beide über eine für sie wichtige, parlamentarisch vielleicht sogar überlebenswichtige Schnittmenge von potenziellen Wechselwählern, die eine spezifische Koalition und Politik wollen, die an das jeweilige Lager gebunden ist. Eine Überschreitung der Lagergrenzen wird daher beide Parteien einem hohen Risiko aussetzen, weil die rot-grünen und schwarz-gelben Wähler diesen Schritt nicht einfach mitmachen werden.

Die Lücke zwischen der politisch notwendigen Öffnung seitens der beiden Parteien und der Bereitschaft ihrer Wählerschaft, diesen Schritt nachzuvollziehen, kann für beide sehr gefährlich werden. Denn die Fallhöhe für FDP und Grüne bis zur Fünfprozenthürde ist nicht sehr hoch.

Zweitens müssen beide ein fast schon existenzielles Interesse daran haben, dass die Große Koalition nicht von Dauer ist. Schon nach zwei Jahren ist diese Koalition bereits inhaltlich erschöpft, denn die großen Parteien blockieren sich gegenseitig mehr, anstatt erfolgreich zusammenzuarbeiten.

Drittens müssen aus all diesen Gründen Grüne und FDP ein gemeinsames Interesse daran haben, das Risiko einer die Lagergrenzen überschreitenden Dreierkoalition nach 2009 für sich selbst wirksam zu begrenzen. Dies können beide Parteien allerdings nur, wenn sie zuerst ihre traditionelle Rivalität hinter sich lassen und sich glaubhaft in Richtung einer neuen inhaltlichen Zusammenarbeit bewegen. Den Vorrat an inhaltlichen Gemeinsamkeiten – etwa bei den Bürgerrechten, in der Außenpolitik und einigem mehr – gilt es jetzt auszuloten, wenn man nach 2009 eine Dreierkoalition als ernsthafte Option in Betracht zieht.

Weder darf in einer solchen Koalition einer der beiden kleineren Partner das Gefühl haben, das fünfte Rad am Wagen zu sein, denn dies würde zu einer sehr instabilen Koalition führen. Noch darf die Bildung einer roten oder schwarzen Ampel von relevanten Wählergruppen beider Parteien als „Verrat“ angesehen werden, sondern muss inhaltlich neue politische Möglichkeiten eröffnen und die politische Fantasie anregen. Machtkalküle allein und ein Überraschungscoup in der Wahlnacht oder kurz danach werden dazu nicht ausreichen und vermutlich zum Scheitern führen. Wohlgemerkt, die Alternative dazu heißt Große Koalition.

Man kann Deutschland nicht wünschen, dass nach 2009 diese Koalition weiter regieren wird. Dennoch ist diese Option im neuen Fünfersystem die wahrscheinlichste mangels bisher machbarer Alternativen in Gestalt einer Dreierkoalition. Die Konsequenz einer Großen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl wird für die beiden kleineren Parteien der langfristige Verlust der Gestaltungsmöglichkeiten auf Bundesebene sein. Es käme ein verstärkter Druck in Richtung eines Übergangs zum Mehrheitswahlrecht mit klaren Mehrheiten hinzu, dem ohne neue Koalitionsalternativen nur schwer zu entgehen sein wird. Damit aber würde perspektivisch die parlamentarische Existenz von FDP und Grünen infrage gestellt werden.

Montag, 25. Februar 2008

Französische Pläne

Wenn Frankreich den EU-Vorsitz übernimmt, geht's dann kraftvoll voran mit Europa - oder drohen unangenehme Konflikte?


Die EU befindet sich in einer merkwürdigen Phase ihrer Entwicklung. Europa schreitet einerseits erfolgreich voran: Zwei neue Mitglieder wurden in die Eurozone aufgenommen; der sogenannte Schengenraum wurde mit dem Wegfall der Binnengrenzen der osteuropäischen Mitgliedstaaten erweitert und manches mehr - aber all dies geschieht, während die EU faktisch auf Autopilot fliegt. Die politischen Piloten Europas schwächeln nämlich ganz erheblich.

Ein Autopilot ist ein Computer, in dem zuerst die Flugdaten eingegeben werden müssen und der dann während des Flugs anhand dieser Daten die Arbeit der Piloten übernehmen kann. Im Falle der EU ist der Autopilot die europäische Bürokratie, welche die Flugdaten (Beschlüsse der Räte, der Kommission und des Europäischen Parlaments) entsprechend umsetzt, und dies geschieht auf eine ziemlich effektive Weise.

Woran es gegenwärtig aber in der EU mangelt, ist die Eingabe neuer Flugdaten. Dazu bedarf es politischer Vorgaben und Führung.

Sollte der Reformvertrag (die Reform der EU-Institutionen) von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden, so würde dies ein entscheidender Schritt nach vorne sein, der den Autopiloten der EU ganz erheblich verbessern wird. Allerdings lägen dann immer noch keine neuen Flugdaten vor.

Und damit kommen wir zu jenem großen Andererseits, was den aktuellen Zustand der EU betrifft. Denn subjektiv ist die EU gespaltener, initiativloser und schwächer denn je.

Dies hängt sowohl mit dem Scheitern der EU-Verfassung und mit dem seit 2005 vollzogenen Personen- und Generationenwechsel in der politischen Führung wichtiger Mitgliedstaaten (Angela Merkel, Gordon Brown, Nicolas Sarkozy) zusammen als auch mit einer dramatischen Verschiebung der machtpolitischen Gewichte in der Weltwirtschaft und im internationalen politischen System.

In dieser eher trüben Lage wird daher der kommenden französischen EU-Präsidentschaft eine ganz besondere Bedeutung für Europa und für die Neudefinition der französischen Rolle innerhalb der erweiterten EU zukommen.

Hier stellt sich nun eine Grundsatzfrage an die kommende französische Präsidentschaft: Wird Frankreich seine EU-Präsidentschaft mitsamt den abzusehenden Initiativen, wie der Weiterentwicklung der EU-Verteidigungsfähigkeit und einer neue Mittelmeerinitiative, vorrangig zur Stärkung der EU nutzen wollen - oder nur zur Verbesserung der französischen Position innerhalb der erweiterten Union?

Die Antwort Frankreichs auf diese Grundfrage wird für die internationale Handlungsfähigkeit der EU den entscheidenden Unterschied ausmachen. Denn nur Nicolas Sarkozy wird in den kommenden zwei Jahren europapolitisch freie Hand haben: Angela Merkel geht auf die Bundestagswahlen zu, Gordon Brown kämpft um sein politisches Überleben, und die italienische Politik verspricht nach den kommenden Neuwahlen ebenfalls keine Hoffnung.

Angesichts der Politik von Präsident Sarkozy in den vergangenen Monaten ist allerdings Skepsis angebracht, ob er die EU-orientierte Option wählen wird. Vieles spricht für die zweite Option.

Und auch im deutsch-französischen Verhältnis bauen sich dunkel dräuende Wolken auf, die wenig Gutes für Europa verheißen.

Zwar ist es richtig, dass in der erweiterten EU ein Konsens zwischen Deutschland und Frankreich allein nicht mehr ausreicht, um entscheidende Initiativen in der Union voranzubringen. Aber ebenso richtig bleibt auch, dass Erfolge kaum möglich sind, wenn sich Deutschland und Frankreich nicht einigen.

Drei Konfliktfelder zeichnen sich im deutsch-französischen Verhältnis ab, die aus diesem Grund entschärft werden müssen:

Erstens: Die französische Idee einer „Mittelmeerunion“ jenseits der Strukturen der EU. Frankreich hat völlig recht mit seiner Kritik an der bisherigen EU-Mittelmeerpolitik, dem sogenannten „Barcelona-Prozess“. Dieser stagniert und hat bis heute kaum positive Resultate erzielt. Im Mittelmeerraum werden aber in Zukunft zentrale Sicherheitsinteressen der EU insgesamt entschieden. Wenn die französische Regierung deshalb nach einem Neuanfang in der Mittelmeerpolitik ruft, so ist das richtig und verdient eigentlich jede Unterstützung.

Eine parallele Mittelmeerpolitik der EU-Anrainerstaaten jedoch, außerhalb der EU-Außenpolitik und angeführt von Frankreich, würde die EU spalten und dadurch ihre Handlungsfähigkeit in diesem für Europas Sicherheit entscheidenden Raum schwächen. Dies wäre ein großer Rückschritt für die gemeinsame Außenpolitik der EU und liefe zudem gegen die Interessen der Nichtanrainerstaaten innerhalb der EU, angeführt von Deutschland.

Zweitens: Frankreich plant während seiner Präsidentschaft eine Verstärkung der EU-Verteidigungsfähigkeit. Dazu möchte Paris in die militärische Integration der Nato zurückkehren, um auf diese Weise Konflikte mit den USA abzubauen, wenn diese gleichzeitig bereit sind, ihren Widerstand gegen den Ausbau der EU-Verteidigungsfähigkeit aufzugeben. Auch dies ist eine weitreichende, vielleicht sogar historisch zu nennende Initiative, den Widerspruch zwischen Nato und EU-Verteidigungspolitik zu überwinden.

Sollte diese Initiative der französischen EU-Präsidentschaft gelingen, so würde dies zwar einen erheblichen Druck auf Deutschland nach sich ziehen, seine Verteidigungsausgaben und sein internationales militärisches Engagement im Rahmen von EU und Nato deutlich zu verstärken. Aber dies betrifft lediglich Defizite in der Verantwortungsbereitschaft der deutschen Regierung und müssen eben von dieser selbst behoben werden.

Denn ohne dass Deutschland als größter Mitgliedstaat seine Beiträge zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik signifikant und dauerhaft verstärkte, würde es mit einer stärkeren internationalen Rolle der EU kaum etwas werden. Man gibt sich zwar gerne europäisch in Berlin, blendet die unangenehmeren Konsequenzen Europas im Ernstfall aber dann doch lieber aus.

Auch dies ist also eine französische Initiative, die eigentlich die volle Unterstützung verdient. Die entscheidende Frage bleibt allerdings erneut, ob Frankreich mit dieser Initiative die sicherheitspolitische Stärkung der EU meint oder nicht vielmehr die Stärkung seiner eigenen Rolle in Europa.

Die Formel „mehr Europa“ wird auf volle Zustimmung stoßen. Die Formel „weniger USA und mehr Frankreich“ hingegen nicht.

Auch die Vorstellung, diese Initiative vor allem auf Frankreich und Großbritannien zu stützen, wird eher Widerstand als Unterstützung hervorrufen.

Drittens: Eine Lockerung des Kompromisses von Maastricht. Dieser mögliche Konfliktpunkt hat nicht unmittelbar mit der französischen Präsidentschaft zu tun und ist keineswegs neu. Gleichwohl könnte er in den kommenden Monaten erneut und in verschärfter Form auf dem europäischen und auch deutsch-französischen Tisch landen.

Mit der gemeinsamen europäischen Währung haben die beteiligten EU-Staaten einen wesentlichen Teil ihrer währungs- und finanzpolitischen Souveränität auf Brüssel und die Europäische Zentralbank (EZB) übertragen. Und auch das Budgetrecht wird durch die Verschuldenskriterien des Vertrags von Maastricht und die Kontrolle durch die EU-Kommission erheblich eingeschränkt. Den nationalen Regierungen bleibt demnach nur noch die jeweilige Anpassung an die europäischen Vorgaben, und das heißt wirtschaftliche und sozialpolitische Reformen und Sparkurs. Denn alle anderen ökonomischen Stellschrauben haben sie aus der Hand gegeben. Eine solche Politik der Sanierung kann aber aufgrund des Widerstands in der Bevölkerung sehr schnell zu einer Gefährdung der Mehrheitsfähigkeit einer Regierung führen – und genau diese Lage droht Nicolas Sarkozy.

Sollte Paris aber angesichts der Schwierigkeiten, die ihm der Sanierungskurs für den französischen Staatshaushalt sowie die Reformen der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarkts bereiten, den Versuch unternehmen, diesen innenpolitischen Druck in Richtung EZB und Maastrichtkriterien umzulenken, so würde dies ebenfalls zu einem sehr ernsten Konflikt mit Deutschland führen müssen. Denn keine Bundesregierung (egal wie sie sich parteipolitisch zusammensetzte) würde auch nur einen Tag weiter im Amt überleben, wenn sie an der Unabhängigkeit der EZB oder deren Regeln rütteln ließe.

Wie gesagt, die französische EU Präsidentschaft wird für die nächsten Jahre der EU definierend sein – zum Guten oder zum Schlechten. Jeder der hier genannten Interessenkonflikte im deutsch-französischen Verhältnis ist leicht vermeidbar, wenn man sich auf beiden Seiten des Rheins offen darüber austauscht und Lösungen (am besten gemeinsam) innerhalb der Strukturen der EU anstrebt.

Dann kann die EU-Präsidentschaft Frankreichs - mit ihren bereits angekündigten Initiativen - Europa sogar sehr weit nach vorne bringen.

Montag, 18. Februar 2008

Vorteil Iran und Syrien

Die kommende US-Regierung wird es mit einem neuen Selbstbewusstsein in Teheran und Damaskus zu tun bekommen. Und mit hohen Risiken

Im Nahen und Mittleren Osten werden die kommenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, denn in dieser Weltgegend sind die USA der regionale Hegemon. Von Washingtons Entscheidungen wird auch in Zukunft das Schicksal dieser Region ganz wesentlich beeinflusst werden - mit Auswirkungen weit über ihre Grenzen hinaus.

Der Nahe Osten ist, geopolitisch gesehen, eine Brückenregion zwischen Ost- und Südasien einerseits und Afrika und Europa andererseits. Zudem befinden sich rund um den Persischen Golf die größten bekannten Öl- und Gasvorräte und Förderkapazitäten der Weltwirtschaft. Für eine globale Macht wäre schon dies allein Grund genug, in die Sicherung dieser Region ihr ganzes Gewicht und Prestige als Weltmacht zu investieren. Doch darüber hinaus findet sich in dieser weiten Region zwischen Mittelmeer und Industal eine hochgefährliche Ansammlung von Konflikten und Risiken: Regionalkonflikte, radikaler Islam, Terrorismus, Nuklearwaffen, die schiitisch-sunnitische Konfrontation sowie regionale Rivalitäten (Indien/Pakistan, Iran/Saudi-Arabien).

Unter der Regierung Bush jedoch haben sich die USA im Wüstensand des Zweistromlandes fest gefahren. Ganz offensichtlich wurden durch eine verfehlte Strategie Washingtons die radikalen Kräfte der Region gestärkt, angeführt von Iran und Syrien.

Was aber wird für den Nahen und Mittleren Osten von einem Regierungswechsel in Washington zu erwarten sein?

Aus Sicht Irans und Syriens haben die vergangenen Jahre die eigene Position gestärkt und nicht geschwächt. Fühlten sich beide Staaten nach dem 11. September 2001 durch die Kriege der USA in Afghanistan und im Irak, die hohe Präsenz amerikanischer Truppen in der gesamten Region und die Enthüllung des iranischen Nuklearprogramms in die Ecke getrieben, ja sogar akut bedroht, so hat sich diese Lage mittlerweile verändert.

Iran ist heute im Irak die einflussreichste Macht und wird dieses Land wohl mittels der dortigen schiitischen Mehrheit machtpolitisch dauerhaft kontrollieren. Gleiches lässt sich auch für die zunehmende Präsenz Irans am Persischen Golf prognostizieren.

Wem aber die Kontrolle über den Irak und den Persischen Golf zufällt, dessen Dominanz, ja Vorherrschaft in der gesamten Region wird über kurz oder lang kaum zu verhindern sein. Vor allem dann nicht, wenn der Führungsanspruch auch noch mit Atomwaffen unterlegt werden würde.

Dies ist der Kern des aktuellen Konflikts zwischen der - auch in diesem Raum führenden - Weltmacht USA und der aufsteigenden Regionalmacht Iran, dessen Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden darf. Entweder finden beide Seiten eine Verhandlungslösung mit Interessenausgleich, oder die Gefahr eines bewaffneten Konflikts wird erneut zunehmen.

Zwar wurden die Sanktionen der Vereinten Nationen verschärft und sie bereiten dem Land ernste Probleme. Iran bleibt regional weiter relativ isoliert, alleingelassen mit Syrien, seinem einzigen Verbündeten. Die antisemitische Rhetorik des Regimes hat zudem dessen internationale Isolierung verstärkt, und in der Region hat sich, angeführt von den USA, eine antiiranische Koalition gebildet.

Aber mit seinem wachsenden Einfluss im Irak, am Golf, in Afghanistan, im Libanon (Hisbollah) und im Nahostkonflikt (Hamas und Islamic Dshihad), verbunden mit den zunehmenden militärischen Schwierigkeiten der USA im Irak und in Afghanistan, ist es Teheran gelungen, sich Spielraum zu verschaffen.

Der Iran hat sein Nuklearprogramm gegen den massiven Widerstand des UN-Sicherheitsrates fortgesetzt. Spätestens mit der Veröffentlichung der letzten NIE (National Intelligence Estimate) der US-Regierung dürfte man sich in Teheran politisch bestätigt sehen.

Zudem ist zu erwarten, dass Iran in den kommenden Monaten alles versuchen wird, um in den Gesprächen mit der Wiener Atomenergiebehörde (IAEA) die noch offenen Fragen nach seinem bisherigen Atomprogramm zu bereinigen. Dann wäre Teheran in der Position, seine Nuklearprojekte unter voller Beachtung der Regeln des Atomwaffensperrvertrages fortsetzen zu können. An der Gefährlichkeit des iranischen Programms würde sich damit freilich nicht ein Jota ändern, die darin besteht, dass beinahe alle Komponenten für ein militärisches Nuklearprogramm entwickelt werden, so dass es dann eines Tages nur noch einer politischen Entscheidung zur militärischen Nuklearisierung bedürfte.

Auch aus syrischer Sicht sind die vergangenen Jahre kaum zu beklagen.

Damaskus nimmt gegenwärtig in einer Art Schlüsselposition für den Nahostkonflikt, Libanon, Irak und Iran ein. Zwar gehört das Land zu den großen Verlierern des Endes des Kalten Krieges im Nahen Osten. Überdies sind die Grundlagen der syrischen Wirtschaft und des Regimes sind alles andere als stabil und zukunftsversprechend. Das Regime in Teheran etwa würde durch einen bewaffneten Konflikt mit den USA mit hoher Wahrscheinlichkeit gestärkt werden, für Syrien würde jedoch eher das Gegenteil gelten. Aber dennoch ist es auch aus der Sicht von Damaskus gelungen, dem massiven internationalen Druck standzuhalten und die eigene Position entscheidend zu verbessern.

Der Rückzug syrischer Truppen aus dem Libanon, der unter dem Druck der USA und des Sicherheitsrates im Frühjahr 2005 stattgefunden hatte, wird in Syrien wohl mittlerweile als Fehler angesehen. Deshalb versucht Damaskus alles, um diesen Fehler Schritt für Schritt zu korrigieren. Denn für Syrien ist die Herrschaft über den Libanon offensichtlich von größerer Bedeutung als die Rückgabe der israelisch besetzten Golanhöhen.

Die schiitische „Partei Gottes“ (Hisbollah) im Libanon erweist als das entscheidende Instrument Syriens, das Nachbarland im Griff zu behalten. Gegen Syrien ist in Beirut ganz offensichtlich keine Wahl eines neuen Staatspräsidenten möglich, trotz des massiven Drucks der USA, Frankreichs und anderer westlicher Regierungen.

Die Hisbollah ist zudem auch ein wichtiges Instrument der syrischen Politik gegen Israel, ebenso wie die palästinensische Hamas. Mit dem Ausbruch der Hamas aus Gaza hat diese gezeigt, dass sie unter den Bedingungen der Isolation nicht schwächer sondern stärker geworden ist. Und auch dies ist ein Vorteil für Damaskus und Teheran, die beide die Hamas wie auch die Hisbollah massiv unterstützen.

Und gemeinsam mit Iran hat Syrien in jüngster Zeit auch seinen großen Einfluss im Irak demonstriert. Denn nur aufgrund der amerikanischen Truppenverstärkung - und ohne Mitwirkung Teherans und Damaskus’ - wäre es schwerlich zu jenem Rückgang der Gewalt gekommen, der in den letzten Monaten im Irak zu verzeichnen war.

Wenn man daher gegenwärtig in Iran und in Syrien auf die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten blickt, dann sieht man sich eher auf der Gewinnerseite - und genau dies könnte sich als das große Problem in Zukunft erweisen.

Denn angesichts der geopolitischen Bedeutung dieser Region, der Interessen der USA und des investierten Prestiges der Weltmacht, das dort auf dem Spiel steht, wird kein amerikanischer Präsident einfach die Truppen abziehen können. Ein Abzug ohne politische Lösung wäre ein beispielloses Desaster für die Interessen und das Prestige der Weltmacht USA.

Die kommende amerikanische Regierung, egal ob demokratisch oder republikanisch geführt, wird aus Eigeninteresse eine Politik der Einbindung und direkten Verhandlungen mit Iran und Syrien betreiben, um einen neuen Regionalkonsens zu erzielen und damit zugleich ihr militärisches Engagement im Irak erheblich reduzieren oder gar beenden zu können. Die USA werden sich militärisch und politisch in der Zeit nach Bush im Nahen und Mittleren Osten umgruppieren, aber nicht klein beigeben und abziehen.

Das strategische Kräfteparallelogramm in der Region wird sich durch den amerikanischen Regierungswechsel also mitnichten ändern. Ein neuer Interessenausgleich wird mit der kommenden amerikanischen Regierung möglich sein, eine Schwächung oder gar Beendigung der amerikanischen Rolle im Nahen und Mittleren Osten und der Übergang zu einer iranischen Hegemonie allerdings nicht.

Sollte man diese Hoffnungen in Teheran und Damaskus hegen, so wird unter einem neuen amerikanischen Präsidenten die Gefahr einer heißen Konfrontation leider zu- und nicht abnehmen.

Montag, 11. Februar 2008

Frieden oder Recht?

Ob China und Russland ihre Modernisierung ohne Rechtsstaatlichkeit und Demokratie betreiben können, ist eine Frage von sicherheitspolitischer Bedeutung.
Von Joschka Fischer

Über zwei Jahrhunderte ist es mittlerweile her, seitdem die amerikanische und etwas später die französische Revolution die naturrechtliche Idee unveräußerlicher Menschenrechte hervorgebracht hatten. Trotz ihres universalistischen Anspruchs, für alle Menschen gleich und ungeteilt zu gelten, war dies zu jener Zeit aber keineswegs der Fall.

Bis diese Idee unveräußerlicher Grundrechte eines jeden Menschen sich zumindest theoretisch global durchgesetzt hatte, bedurfte es noch fast zweier weiterer Jahrhunderte, angefüllt mit Kriegen, politischen und sozialen Katastrophen und der Entkolonialisierung der Welt.

In ihren Anfängen war diese Idee der Menschenrechte auf die Innenpolitik beschränkt. Im Verkehr der Staaten untereinander zählte auch weiterhin nicht das Recht, sondern allein die Macht. Der klassische staatliche Souveränitätsbegriff war ausschließlich auf die Macht gestützt, auf die Kontrolle von Bevölkerung und Territorium. Wie zivil oder brutal, wie demokratisch oder autoritär diese Kontrolle jeweils durchgesetzt wurde, fiel unter die staatliche Souveränität.

Die erste große Veränderung des Verständnisses staatlicher Souveränität erfolgte mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Deutschen Reiches nach dem Ende des II. Weltkriegs. Zum ersten Mal wurde einer Staatsführung für ihre Verbrechen international der Prozess gemacht und wurden ihre Repräsentanten und Schergen zur Rechenschaft gezogen.

Zugleich signalisierten der Nürnberger Prozess und mit ihm die Gründung der Vereinten Nationen nebst ihrer Definition der Menschenrechte die wachsende Bedeutung des Rechts in den internationalen Beziehungen. Souveränität begründete sich nun nicht mehr nur allein aus Macht, sondern mehr und mehr auch aus dem Recht. Der Kalte Krieg fror dann allerdings diesen Prozess ein, über fünf Jahrzehnte hinweg.

Mit dem Völkermord in Ruanda und der humanitären Katastrophe auf dem Balkan in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand das Konzept der humanitären Intervention. In deren Gefolge setzte sich im Völkerrecht das „Recht auf Schutz“ und die „Pflicht zum Schutz“ vor staatlicher Willkür und Verbrechen an der eigenen Bevölkerung durch, auch wenn deren Umsetzung nach wie vor mehr als ungewiss ist. Diese Entwicklung in Politik und Völkerrecht führte schließlich zur Gründung des internationalen Strafgerichtshofs.

Die Grundidee der Moderne, auch die Macht der Staaten und ihrer Herrscher einer übergeordneten Herrschaft des Rechts zu unterwerfen und so die Rechte des einzelnen Menschen über die Souveränität der Macht zu stellen, hatte damit, getrieben von schrecklichen Erfahrungen, einen weiteren großen Schritt nach vorne gemacht.

Diese Entwicklung trat nun alles andere als zufällig ein. Im 20. Jahrhundert war man sich in Europa und den USA angesichts der totalitären Herausforderung von Faschismus und Kommunismus bewusst geworden, dass gerade unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung und die Demokratie im Innern auch die auswärtige Politik eines Staates ganz entscheidend bestimmten. Die Friedensfähigkeit von Demokratien erwies sich um Faktoren größer als die von autoritären Regimes oder gar Diktaturen.

Heute ist dieses Problem erneut aufgeworfen. Denn der Aufstieg von China und das Wiedererstarken Russlands scheinen zu demonstrieren, dass es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen politisch-kultureller und wirtschaftlicher Modernisierung gibt - und es fragt sich, was dies für die internationale Sicherheit bedeutet.

Gerade der atemberaubende wirtschaftliche Erfolg der Volksrepublik China scheint zu beweisen, dass es sehr erfolgreiche autoritäre Modernisierungsalternativen zur westlichen Verbindung von Freiheit, Demokratie, Herrschaft des Rechts und Marktwirtschaft geben kann. Dass ein Land also durchaus einer selektiven Modernisierung folgen kann, einer Modernisierung à la carte, in der es sich jeweils aussucht, welche Elemente der Moderne – Technologie, Wirtschaft, Infrastruktur, politische Institutionen, Werte und Normen – es umsetzen will und welche nicht. Und dass dies funktionieren könnte ...

Welch ein Irrtum! Die Vorstellung einer partiellen Modernisierung wird sich bereits auf mittlere Sicht als Illusion, ja durchaus als gefährliche Illusion erweisen, wie dies bereits die autoritären Modernisierungsalternativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Russland gezeigt haben.

Die Moderne gibt es auf mittlere Sicht ganz oder gar nicht, da sie durch den technologischen und sozialen Wandel in der Tiefe einer Gesellschaft Kräfte und Spannungen frei setzt, die auf Dauer ohne normative und institutionelle Antworten nicht aufgefangen werden können. Gewiss lassen sich diese Widersprüche eine ganze Zeit lang unterdrücken, aber der Preis dafür ist nur eine Anhäufung von gesellschaftlichen Widersprüchen, die früher oder später explodieren.

Bereits heute sind in beiden Systemen die Krankheitssymptome einer selektiven Modernisierung an der allumfassenden Korruption zu erkennen. Ohne eine unabhängige Justiz, unabhängige Medien und eine funktionierende Gewaltenteilung wird deshalb auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung nicht nachhaltig funktionieren. China beispielsweise bekommt zunehmend Probleme mit seinen Exporten wegen mangelnder Produktsicherheit, die in hohem Maße korruptionsbedingt ist. Ohne eine Entscheidung für eine freie Presse und eine unabhängige Justiz wird dieses Problemen zu- und nicht abnehmen.

Und auch Russlands „gelenkte“ (sprich: autoritäre) Modernisierung muss sich in naher Zukunft für die Herrschaft des Rechts und für eine funktionierende Gewaltenteilung entscheiden, oder das Land wird allein vom Öl- und Gaspreis und einem brutalen Kampf um Macht, Einfluss und Geld abhängig bleiben. Damit aber könnte der Niedergang russischer Macht nicht aufgehalten werden und das Land würde ein weiteres Mal, nach der Sowjetunion, an einer selektiven Modernisierung scheitern.

In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, in der es kein „Weit weg“ mehr gibt und eine globale Zweibahnstraße für alle Krisen und Konflikte existiert, wird eine solche partielle Modernisierung, die auf der Verdrängung von Konflikten und Spannungen beruht, die sie selbst ausgelöst hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weitaus gefährlichere Folgen haben, als dies für das 20. Jahrhundert gegolten hat.

Und da der große Krieg als Option, bedingt durch die gegenseitige thermonukleare Vernichtung der Weltmächte, nicht mehr wirklich besteht, werden sich die zunehmenden Spannungen und Widersprüche im Zeitalter der Globalisierung einen anderen Ausweg suchen: messianische Gewaltideologien, Terrorismus, zerfallende Staaten, nichtstaatliche Akteure, primitive Massenvernichtungswaffen und andere Formen der politischen und sozialen Desintegration werden neben den klassischen Konflikten zwischen Staaten und ihren Ursachen in Zukunft eine immer größere sicherheitspolitische Bedeutung erlangen.

Neben die klassische machtpolitische Bedrohung des Friedens tritt daher in der Gegenwart mehr und mehr die Gefährdung des (regionalen und globalen) Friedens durch politische und soziale Desintegration, durch den Verfall normativer, politischer und institutioneller Ordnungssysteme, und durch neue totalitäre Ideologien.

Genau deshalb erweist sich der Widerspruch zwischen sogenannten außenpolitischen „Realisten“ und „Idealisten“ oder zwischen „harter“ und „sanfter“ Macht als ein Gegensatz von Gestern. Die alte Interessenorientierung in der Politik der Staaten gilt zwar fort. Aber sie allein wird in Zukunft Frieden und Stabilität immer weniger garantieren können.

Menschenrechte und Sicherheit werden im 21. Jahrhundert unlösbar miteinander verbunden sein. Das ist ein Ergebnis der Globalisierung, des Realzusammenschlusses von 6,5 Milliarden Menschen in einer globalen Wirtschaft und einem globalen Staatensystem.

Sicherheit im 21. Jahrhundert wird deshalb weitaus mehr durch eine normative und institutionelle Modernisierung und durch wirtschaftliche und soziale Entwicklung gewährleistet als durch eine immer weitere Aufblähung der Militärhaushalte.

Freilich wird es im Extremfall ohne die militärische Absicherung dieser Modernisierungsbestrebungen nicht gehen. Wer das eine will, ohne für das andere zu sorgen und dann auch notfalls das Risiko eines militärischen Engagements einzugehen, der macht denselben Fehler wie diejenigen, die eine selektive Modernisierung betreiben: Er blendet die unangenehmen Aspekte der Modernisierung aus und wird dafür einen hohen Preis zu bezahlen haben.

Montag, 4. Februar 2008

Afghanische Klemme

Mangels politischer Führung schliddert die Bundesregierung sehenden Auges in eine Bündniskrise. Nun muss die Kanzlerin zeigen, was sie kann.


Aussitzen und Nichtstun sind in der Politik bisweilen eine Tugend. Wenn ein solches Verhalten aber auf Problemverdrängung und nicht Problemlösung hinausläuft, dann zeitigt eine solche Strategie der kalkulierten Passivität meist fatale Folgen. Genau eine solche Entwicklung droht gegenwärtig Deutschland in der Causa Afghanistan.

Was sich jetzt zwischen den USA und der Nato auf der einen Seite und der Bundesregierung auf der anderen Seite abspielt, war seit zwei Jahren abzusehen.

Der amerikanische Verteidigungsminister hat an seinen deutschen Kollegen einen Brandbrief geschrieben, in dem er in wenig diplomatischen Worten eine Beteiligung deutscher Soldaten an den Kämpfen gegen die Taliban im Süden des Landes und insgesamt eine Verstärkung des deutschen Militärbeitrags forderte.

In Afghanistan geht es um sehr viel für die Nato, nämlich erstens um Sieg oder Niederlage am Boden. Und zweitens daher um die Zukunft des Bündnisses insgesamt. Und Deutschland läuft in dem seit Langem unter der Decke schwelenden Konflikt, der jetzt öffentlich sichtbar wurde, Gefahr, als Hauptverantwortlicher für ein mögliches Scheitern der Nato in Afghanistan gesehen zu werden.

Sollte dieser Fall eintreten, so würde er für die deutsche Außenpolitik den Maximalschaden bedeuten. Eigentlich darf keine Bundesregierung dies zulassen, aber dennoch bewegt sich die gegenwärtige Politik in Berlin just in diese Richtung.

Als 2005/2006 im Süden Afghanistans die kanadischen Einheiten während der Offensive der wieder erstarkten Taliban unter schweren Beschuss gerieten, erfolgte damals ein dramatischer Hilferuf im Bündnis. Die kanadische Armee hatte innerhalb kurzer Zeit über 60 tote Soldaten zu beklagen. Und schon damals waren vor allem die Deutschen gemeint. Die Bundesregierung aber stellte sich taub, und weder Parlament noch deutsche Öffentlichkeit nahmen dieses Hilfeersuchen jemals wirklich zur Kenntnis.

Auch Italien und Frankreich hatten sich in Afghanistan militärisch zurückgehalten, aber diese beiden Nationen übernahmen – gewissermaßen zum Ausgleich – im Sommer 2006 die Führung der riskanten UN-Militärmission im Libanon, nachdem der Krieg Israels mit der schiitischen Hisbollah beendet worden war. Und auch im Libanon hielt sich Deutschland im tiefen Hintergrund. Man engagierte sich mit der Marine für die Überwachung der libanesischen Küste, wo es aber faktisch nichts zu tun gibt.

Nun ist der Einsatz deutscher Soldaten alles andere als populär in Deutschland. Und dass sich das Land mit Militäreinsätzen aufgrund seiner Geschichte schwertut, ist kein Mangel, sondern vielmehr ein großer Fortschritt. Zudem liegt gemäß dem Grundgesetz die letzte Entscheidung über den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland nicht bei der Bundesregierung, sondern beim Parlament.

Aus all diesen Gründen bedarf es in der Frage deutscher Militäreinsätze immer der engagierten Überzeugungsarbeit und der Führung durch die Bundesregierung und hier vor allem der Bundeskanzlerin. Ohne das direkte und glaubwürdige Engagement der Kanzlerin wird es schwer werden, einen Militäreinsatz mehrheitsfähig zu machen oder mehrheitsfähig zu halten. Und dies gilt im Falle Afghanistan ganz besonders, da die Risiken dort für die eingesetzten Soldaten ganz erheblich sind.

In dieser Frage – und auch das ist bereits heute absehbar – wird sich durch Hinhalten und Zeitablauf nichts zum Besseren wenden. Denn die nächste amerikanische Regierung wird (egal, wer sie stellen wird) den Druck auf Deutschland massiv erhöhen.

Am Ende wird die Bundesregierung unter diesem Druck doch nachgeben und ein neues Mandat im Bundestag beantragen müssen.

Nur was ist das für eine Politik, die am Ende einen doppelten Schaden – Vertrauensverlust in die deutsche Verlässlichkeit und Bündnisfähigkeit und einen Einsatz deutscher Soldaten im Süden Afghanistans! – sehenden Auges ansteuert? Berlin weiß ganz genau, dass es eigentlich nur Ja sagen kann, da es um die Zukunft der Nato insgesamt geht. Und man musste dies von Anfang an wissen.

Hätte die Bundesregierung auf den Hilferuf der Kanadier sofort positiv reagiert, so wäre damals Deutschland in der Lage gewesen, auf den Prozess in Afghanistan entscheidend gestaltend Einfluss zu nehmen. Als quasi Garantiemacht der Petersberg-Konferenz von Bonn im Jahre 2001 wäre Deutschland durch eine Ausweitung seines militärischen Engagements auch in der Lage gewesen, eine kritische Überprüfung der amerikanischen Afghanistan-Strategie zu fordern, was im Lichte der Ereignisse dringend notwendig gewesen wäre.

Und nur Deutschland wäre dazu dank seines diplomatischen und militärischen Gewichts in Afghanistan in der Lage gewesen. Aber dies hätte der entschiedenen Führung durch die Bundesregierung und vor allem durch die Bundeskanzlerin bedurft.

Dazu ist es leider nicht gekommen. Stattdessen erodiert die innenpolitische Legitimation des deutschen Afghanistaneinsatzes, weil es statt Führung ein Führungsvakuum gibt.

Afghanistan ist alles andere als eine verlorene Sache. Und anders als im Irak liegen zwingende politische Gründe – der 11. September 2001 – und die völkerrechtliche Legitimation durch die entsprechenden Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats vor, warum sich der Westen in diesem durch mehr als zwei Jahrzehnte Krieg und Bürgerkrieg verheerten Land engagiert.

Allerdings sind weder die amerikanische Strategie, die bisher viele zivile Opfer gefordert hat, noch die europäische Zurückhaltung, die sich im Wesentlichen auf den militärischen Beitrag zum Wideraufbau in den weniger umkämpften Regionen konzentriert hat, dazu angetan, den Kampf um die Zukunft dieses für die Sicherheit des Westens wichtigen Landes zu gewinnen.

Und eine weitere Gefahr wird sich in den kommenden Wochen für die deutsche Politik auftun, nämlich ihre Isolation im Bündnis. Denn Frankreich wird seine Politik der Zurückhaltung revidieren und sich verstärkt militärisch engagieren. Dann aber bekommt die ablehnende Haltung Deutschlands neben der transatlantischen noch eine europäische Dimension.

Denn eine europäische Sicherheitspolitik wird es nur geben können, wenn die drei großen europäischen Mitgliedsstaaten der EU eine gemeinsame Politik verfolgen und dafür auch die notwendigen militärischen Fähigkeiten bereitstellen. Während der kommenden französischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 wird dies wohl zum zentralen Thema werden, und dabei werden sich erneut alle Augen auf Deutschland richten.

Auch in dieser, für die Zukunft Europas in einer unsicheren und sich dramatisch verändernden Welt entscheidenden, Frage wird es der strategischen Weitsicht und des Muts zum Engagement seitens der Regierungschefin bedürfen. Sie hat ihn als Ratspräsidentin der EU in der Sache Reformvertrag erfolgreich bewiesen. Die zukünftigen Entscheidungen werden allerdings innenpolitisch alles andere als populär sein.

Umso mehr wird es deshalb auf Angela Merkel ankommen.

ZEIT online06/2008

Montag, 28. Januar 2008

Bush scheitert in Gaza

Kleine Schritte nach vorn, große zurück? Im Nahen Osten ist nur das Utopische realistisch, nämlich ein Ausweg, den alle akzeptieren können.

Zwei Ereignisse der vergangenen Tage haben offensichtlich werden lassen, dass die jüngste amerikanische Nahostinitiative von Anfang an auf Treibsand gebaut war: die Reise des amerikanischen Präsidenten in die Region und der eskalierende Konflikt zwischen Israel und Hamas in Gaza.

Die Konferenz von Annapolis verfolgte drei Ziele, die miteinander eng verbunden waren, nämlich erstens einen Ausgleich zwischen Israel und den Palästinensern auf der Grundlage einer zu verhandelnden Zwei-Staaten-Lösung. Dadurch sollten zweitens die Voraussetzungen für eine antiiranische Koalition der prowestlichen arabischen Staaten, Israels und der USA geschaffen werden, um so die durch den Irakkrieg erheblich gesteigerte Macht Irans in der Region zu begrenzen oder gar zurückzudrängen. Und drittens sollten auf mittlere Sicht dadurch die Voraussetzungen für eine amerikanische Truppenreduzierung oder gar den völligen Abzug aus dem Irak geschaffen werden.

George Bushs Reise an den Persischen Golf und nach Saudi-Arabien erwies sich am Maßstab dieser Ziele allerdings als Enttäuschung. Die Könige, Emire und Präsidenten hörten ihm zwar freundlich zu, zeigten ihm wunderschöne Jagdfalken und prächtige Araberhengste und vereinbarten auch umfängliche amerikanische Waffenlieferungen.

Aber bezüglich des eigentlichen politischen Zwecks dieser Reise, nämlich der Stärkung der antiiranischen Koalition und verstärkten Isolierung Irans hielten die gastgebenden Regierungen eine freundliche, aber bestimmte Distanz zu den Plänen des US-Präsidenten. Von ihm erwarten sie keine Lösungen mehr, da seine Tage gezählt sind.

Zudem hat sich in Saudi-Arabien, der wichtigsten Regionalmacht in dieser antiiranischen Koalition, offensichtlich jener Flügel in der Herrscherfamilie durchgesetzt, der die Möglichkeiten eines diplomatischen Containments Irans am Golf noch nicht für erschöpft hält. Eine solche Strategie weist zeitlich aber eindeutig über Bush und seinen Vizepräsidenten Cheney hinaus und orientiert sich vielmehr an dem nächsten amerikanischen Präsidenten, wer immer dies auch sein wird.

Einen noch heftigeren, ja vielleicht sogar finalen Rückschlag hat die amerikanische Initiative nun durch die Ereignisse in Gaza erlitten.

Die bisherige israelische und amerikanisch-westliche Strategie angesichts der bei den letzten freien und geheimen Wahlen in den Palästinensergebieten erfolgreichen radikalislamischen Hamas richtete sich auf ihre umfassende Isolierung. Diese Strategie galt erst recht nach dem kurzen und blutigen Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah in Gaza, der mit einem Kollaps der Fatah und ihrer zahlenmäßig überlegenen Streitkräfte endete.

Hamas hält an der Rückeroberung ganz Palästinas fest und damit auch an der Zerstörung des Staates Israel. Konsequenterweise lehnt Hamas die von der palästinensischen Regierung unterzeichneten internationalen und mit Israel getroffenen Vereinbarungen ab und sieht im Terror eine legitime Waffe gegen Israel.

Auf dieser politischen Grundlage war für den Westen eine Zusammenarbeit mit einer von Hamas geführten Regierung nicht möglich. Alle Angebote, die vor allem die EU gemacht hatte und die eine Veränderung dieser Positionen anstrebten, wurden von Hamas abgelehnt.

Der Westen, vorneweg die USA, setzte stattdessen allein auf Präsident Abbas und seine Fatah, die freilich von Hamas zuerst bei den Wahlen und anschließend im Bürgerkrieg von Gaza geschlagen wurde.

Sowohl in Ramallah als auch in Jerusalem geht man sogar davon aus, dass ohne die massive Präsenz israelischer Sicherheitskräfte in der Westbank auch diese Region von Hamas übernommen werden würde. Die palästinensische Verwaltung, ebenso wie die Fatah als politische Partei, die diese Verwaltung in den Händen hält, wird in den Augen der Mehrheit der Palästinenser als korrupt und unfähig angesehen. Zudem zeitigt ihre Verhandlungsstrategie mit Israel keine greifbaren Erfolge.

Ganz anders hingegen agiert Hamas. Sie rüstet im Gazastreifen nach wie vor auf. Fast täglich gehen auf israelische Städte und Dörfer an der Grenze zu Gaza zahlreiche Raketen nieder, und es ist nur der technischen Primitivität dieser Geschosse zu verdanken, dass bisher nicht mehr zivile Opfer auf der israelischen Seite zu beklagen waren. Israel schlägt militärisch zurück; begrenzt zwar, aber dennoch sind auch auf palästinensischer Seite zahlreiche Zivilsten unter den Opfern zu beklagen.

Durch die völlige Isolierung des Gazastreifens sollte Hamas in die Knie gezwungen werden. Diese Strategie hatte aber einen entscheidenden Fehler, denn sie traf vor allem die Masse der palästinensischen Zivilbevölkerung. Hamas nutzte die sich dramatisch verschlechternde humanitäre Situation in Gaza, um sich in der arabischen Welt und in der internationalen Öffentlichkeit als Opfer darzustellen.

Mit dem kollektiven Ausbruch von Hunderttausenden aus Gaza ist Hamas jetzt ein brillanter strategischer Schachzug gelungen. Geschickt wurde hier eine Symbolik der Befreiung instrumentalisiert. Der Ausbruch und der Mauerfall waren wohl vorbereitet und organisiert und machen die tatsächlichen Ursachen für die palästinensische Misere und die wahren Absichten von Hamas, die nichts mit Freiheit zu tun haben, vergessen.

Die Folgen dieser Woche werden noch lange zu spüren sein: Erstens sind Abbas und seine Fatah schwächer denn je. Seine Hoffnung, die unterlegene innenpolitische Lage durch einen Friedensvertrag mit Israel überwinden und damit gegenüber Hamas mittels einer Volksabstimmung über den Vertrag die Oberhand zurückgewinnen zu können, hat sich erledigt. Ein Verhandlungsprozess mit Abbas allein wird infolgedessen noch fragwürdiger als bisher.

Zweitens sind dadurch die arabischen Staaten – vorneweg Ägypten – unter einen enormen, humanitär begründeten Druck gesetzt worden, sich mit den Palästinensern in Gaza und damit de facto mit Hamas zu solidarisieren, dem sie nicht ausweichen können. Dies wird jede Isolierungsstrategie gegenüber Hamas in Zukunft hinfällig machen, mit der Konsequenz, dass Hamas im Gazastreifen weiter aufrüsten und die Bedrohung von Israel zunehmen wird.

Drittens findet sich Israel in der Wahl zwischen Pest und Cholera wieder: Entweder wird die Aufrüstung der Hamas mit immer genauer zielenden und weiter reichenden Raketen und damit die Bedrohung für Israel und seine Bürger zunehmen, oder Israel entschließt sich zu einer militärischen Invasion in den Gazastreifen, die viele Opfer unter der Zivilbevölkerung und weder eine militärische noch eine politische Lösung bringen wird.

Israel ist Hamas zwar militärisch haushoch überlegen, kann aber sein militärisches Potenzial nicht voll ausspielen, ohne weite Teile der Zivilbevölkerung zu treffen. Dies würde aber erneut nur Hamas in die Hände spielen und Israel international unter schweren Druck setzen und am Ende sogar isolieren.

Auch die Hoffnung mancher in Jerusalem, die Palästinenser in Gaza und auf der Westbank an Ägypten und Jordanien zurückgeben zu können, unterliegt einer gefährlichen Illusion. Denn beide Staaten sind im Kern keineswegs stabil, und eine Rückübernahme dieser beiden palästinensischen Territorien könnte die Destabilisierung von Jordanien und Ägypten akut werden lassen.

Und viertens kann es keinen Frieden im Nahen Osten geben, wenn es nicht gelingt, die Ablehnungsfront aufzuweichen, und zumindest wesentliche Teile von Hamas und der hinter ihr stehenden Staaten wie Syrien und Iran einzubinden. Damit hätte sich aber die jüngste amerikanische Friedensinitiative erledigt.

Im Nahen und Mittleren Osten sind, dank der Destabilisierung der Region durch den Irakkrieg der USA und dessen regional fataler Folgen, die verschiedenen Einzelkrisen mittlerweile so eng miteinander verflochten, dass es kaum noch möglich sein wird, zu erfolgreichen Teillösungen zu kommen.

Israel/Palästina, Libanon/Syrien, Irak/Iran/Syrien, Saudi-Arabien/die Golfstaaten/Iran – für alle diese Teilkrisen wird die nächste amerikanische Regierung gemeinsam mit den Europäern und den anderen beiden ständigen Sicherheitsratsmitgliedern einen regionalen Gesamtausgleich suchen müssen, in dem sich die legitimen Interessen aller Staaten und Völker wiederfinden.

Dieser Regionalansatz muss selbstverständlich die Anerkennung des Existenzrechts Israels als jüdischen Staats umfassen, die Unabhängigkeit Libanons, Syriens territoriale Integrität, die territoriale Integrität des Irak, die legitimen iranischen Sicherheitsinteressen und die Stabilität am Golf und auf der arabischen Halbinsel.

Diese regionale Sicherheitsordnung muss auch für die Völker ohne Staaten Lösungen bringen, wie die Palästinenser. Und auch auf die Kurdenfrage wird eine Antwort gefunden werden müssen, die einen Ausgleich zwischen den Interessen der Kurden und den betroffenen Staaten in der Region – Irak, Türkei, Iran und Syrien – zur Grundlage haben muss.

Denn nur wenn am Ende bei einem regionalen Ausgleich alle Beteiligte mehr gewinnen als verlieren können, wird solch ein schwieriges Unterfangen gelingen können. Unmöglich ist es nicht.

Die Alternative zu einem regionalen Ausgleich, garantiert durch ein regionales Sicherheitssystem, ist der Krieg aller gegen alle, eine galoppierende Radikalisierung und Chaotisierung, ja perspektivische Revolutionierung dieser strategisch so überaus wichtigen Region.

Allerdings werden die USA diese große Aufgabe niemals allein bewältigen können. Europa wird in seiner Nachbarregion, in der es Sicherheitsinteressen hat, mit einer neuen Verantwortung konfrontiert werden, der es sich nicht wird entziehen dürfen.