Montag, 26. November 2007

Ein Frieden der Schwachen?

Von Joschka Fischer

Nahost-Konferenz in Annapolis: Entweder wird ein gefährdeter Kompromiss gefunden, oder das Verhängnis schreitet fort

Die Einladungen sind vor einigen Tagen versandt worden. Und so wird am Dienstag dieser Woche in Annapolis, ganz in der Nähe der Hauptstadt der USA, eine Nahostkonferenz zusammentreten. Über vierzig Regierungen und internationale Organisationen sind dazu eingeladen. Präsident George W. Bush versucht mit dieser Initiative in seinem letzten Amtsjahr eine Lösung jenes gleichermaßen alten wie gefährlichen Konflikts zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, vor allem aber mit den Palästinensern.

Mit der nur wenige Tage dauernden Konferenz von Annapolis soll (wenn es gut läuft, was alles andere gesichert ist) ein Ausweg aus dem Treibsand des Nahostkonflikts gefunden und dann gegangen werden. Die Verhandlungen für eine Endstatusvereinbarung - und nur sie allein kann die Voraussetzungen für den Übergang von einem Jahrzehnte anhaltenden heißen Krieg zu einem kalten Frieden zwischen den Konfliktparteien schaffen – werden danach allerdings sehr viel mehr Zeit beanspruchen.

Sollte Annapolis allerdings direkt oder indirekt scheitern, also ergebnislos auseinander gehen oder nur in leeren Versprechungen enden, so wird sich der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern verschärfen und die Konfrontation verstärken. Denn durch ein negatives Ergebnis würden diejenigen auf beiden Seiten gestärkt, welche die Konfrontation fortsetzen und verschärfen wollen.

In den Verhandlungen in Annapolis geht es um die Einleitung von Endstatusverhandlungen, also um eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina, welche den Krieg zweier Völker um dasselbe Land durch einen historischen Kompromiss endlich beenden soll. Diese Verhandlungen werden sich vor allem auf die Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates konzentrieren, auf seine Grenzen und Institutionen, auf die israelischen Siedlungen, auf Sicherheit für beide Seiten, auf Jerusalem und seine heiligen Stätten, auf das Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge und auf die Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten.

Genau an diesem Punkt der Verhandlungen standen die USA bereits schon einmal. Sieben Jahre sind inzwischen vergangen und politisch auch vertan worden, seitdem ein anderer amerikanischer Präsident, Bill Clinton, ebenfalls in seinem letzten Amtsjahr, ernsthaft versucht hatte, mit der ganzen Macht der USA diesen Konflikt zu beenden. Leider war Clintons Initiative in Camp David an der Unnachgiebigkeit der Konfliktparteien – vorneweg Yassir Arafats - und an der unzureichenden amerikanischen Vorbereitung dieser Konferenz gescheitert.

Präsident Clinton lief damals die Zeit davon, und der von Anfang an begrenzte Zeithorizont wird auch diesmal eines der großen Probleme der Regierung Bush sein. Es bleibt zu hoffen, dass der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Präsident Bush dessen Fehler aus dem Jahre 2000 nicht wiederholen und stattdessen dessen Initiative bruchlos fortsetzen wird.

Eine hypothetische Frage sei angesichts der nun beginnenden Nahostkonferenz erlaubt: Wo stünde der Nahe Osten heute, wenn George W. Bush die Initiative Bill Clintons fortgeführt oder zumindest nach dem 11. September 2001 und nach Afghanistan wieder aufgenommen hätte? Wenn er also, statt den fatalen Fehler eines Einmarsches in den Irak zu begehen, seine ganze Kraft auf einen schwierigen Kompromiss im Nahostkonflikt konzentriert hätte? Die Lage im Nahen Osten wäre heute ohne jeden Zweifel unvergleichlich besser und der Westen sicherer.

Stattdessen hängen die USA im Irak militärisch fest. Sie können dort weder gehen noch bleiben, jede Option erweist sich als falsch. Und diese Politik hat zudem Iran in eine regionale Position der Stärke geschoben, die das Land aus eigener Kraft niemals hätte erreichen können.

Der Weg nach Jerusalem führe über Bagdad, lautete damals das Dogma der Regierung Bush und bis heute der Neokonservativen innerhalb und außerhalb der Regierung. Erst das offensichtliche Scheitern dieser realitätsblinden Strategie machte dann sehr spät den Weg für einen (ganzen oder lediglich halben?) Strategiewechsel frei. Wie ernsthaft dieser Strategiewechsel tatsächlich angelegt ist, werden aber erst die kommenden Monate zeigen. Denn anders als zur Zeit Clintons verhandelt heute nicht der Präsident selbst, sondern seine Außenministerin.

Condoleezza Rice und das State Departement sind voll engagiert, aber gilt dies auch für den Präsidenten und vor allem seinen mächtigen Vizepräsidenten? Hat man sich dort tatsächlich von der gescheiterten Strategie des „Über Bagdad nach Jerusalem“ verabschiedet? Daran bestehen nach wie vor erhebliche Zweifel und das schwächt diese neue Friedensinitiative.

Die USA brauchen für den Nahen und Mittleren Osten eine völlig neue Regionalstrategie, um eines Tages aus dem Irak abziehen zu können, ohne dass das Land zerfällt und die Region endgültig in ein Chaos mit unabsehbaren Folgen rutscht. Und genau dafür wäre eine Friedenslösung im israelisch-palästinensischen Konflikt unter Einschluss von Syrien und Libanon der geeignete Ausgangspunkt.

Zudem eröffnet sich ironischer Weise gerade durch die drohende hegemoniale Dominanz des Iran eine neue Lage. Denn die meisten arabischen Staaten, vorneweg Saudi-Arabien und die Golfstaaten, haben nahezu existenzielle Ängste vor einer regionalen Hegemonialmacht Iran. Die Feindschaft gegen Israel hat im Vergleich dazu erheblich an Bedeutung verloren und ist stattdessen einer - öffentlich nicht ausgesprochenen Interessengleichheit - angesichts der iranischen Herausforderung gewichen. Israel und die gemäßigten arabischen Staaten sehen sich in Zukunft einer gemeinsamen Bedrohung namens Iran gegenüber, und diese völlig neue Mächtekonstellation in der Region eröffnet eine einmalige Chance für eine Lösung des Nahostkonflikts.

Freilich sind auch die Schwierigkeiten und Widerstände gewaltig, die einer Lösung des Konflikts entgegenstehen: der enge Zeitrahmen; die innen- und weltpolitische Schwäche der Regierung Bush durch das absehbare Ende ihrer Amtszeit und die Folgen des Irakkriegs; und schließlich die innenpolitische Schwäche der beiden Hauptakteure, des israelischen Premierministers Ehud Olmert und des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas.

Angesichts dieser dreifachen dramatischen Schwäche der Regierungen in Washington, Jerusalem und Ramallah fällt es daher von einem realistischen Standpunkt aus gesehen sehr schwer, an einen Erfolg des in Annapolis einzuleitenden Prozesses zu glauben.

Olmerts Spielräume für Kompromisse in der Sache sind in seiner Partei und vor allem in seiner Koalition extrem klein bis nicht vorhanden. Sollte er es dennoch versuchen, so droht seine Koalition zu scheitern. Und Abbas hat in den vergangenen Monaten zweimal gegen die Hamas verloren: in freien und geheimen Wahlen und im palästinensischen Bürgerkrieg in Gaza. Bei ihm stellt sich noch sehr viel mehr als bei Olmert die Frage, für wen er noch spricht.

An der Fähigkeit beider, das liefern zu können, was die jeweils andere Seite in diesem Friedensprozess unbedingt braucht, muss also gezweifelt werden. Andererseits verfügen aber Olmert und Abbas über ein fast identisches innenpolitisches Interesse. Sie wollen ihre Lage zuhause durch einen vorzeigbaren Fortschritt im Friedensprozess verbessern. Olmert möchte dadurch die nächsten Wahlen gewinnen und Abbas will mittels einer Volksabstimmung erneut die Oberhand über Hamas gewinnen.

Ganz offensichtlich beabsichtigt man in Annapolis einen Prozess einzuleiten, der die Ergebnisse der gescheiterten Verhandlungen von Camp David und dem ägyptischen Badeort Taba Ende 1999 mit der Vorgehensweise der 2002 erarbeiteten „Road Map“ verbinden soll: Keine Tabus mehr in der Sache sondern eine Vereinbarung über den Endstatus, die dann aber schrittweise und nach Maßgabe der Fortschritte bei der Umsetzung der jeweiligen Abschnitte durch die Konfliktparteien umgesetzt werden soll.

Diese Vorgehensweise wird sich aber als die entscheidende Hürde des gesamten Prozesses erweisen. Bisher sind alle Friedensbemühungen an der Umsetzung gescheitert, denn beide Konfliktparteien waren in der Vergangenheit dazu nicht Willens oder in der Lage. Ein solcher Ansatz einer schrittweisen Umsetzung hat nur dann eine Aussicht auf Erfolg, wenn die USA, nachdrücklich unterstützt von den anderen Mitgliedern des Quartetts (Europa, Russland, UN-Generalsekretär) und den moderaten arabischen Staaten (vor allem Saudi-Arabien), sich wirklich mit ihrer ganzen Macht engagieren.

Andererseits gibt es gegenwärtig keinen anderen Ansatz zur Reaktivierung des Friedensprozesses; zu wählen ist nur zwischen diesem und der Fortsetzung der Tragödie. Und noch etwas ist gewiss: Die Gegner und Feinde eines Friedens im Nahen Osten werden umso weniger Ruhe geben, je mehr dieser Prozess erfolgreich zu werden verspricht. Auch darauf wird man sich einstellen müssen.

Die Palästinenser befinden sich bereits heute im Bürgerkrieg und auch in Israel wird im Fall eines wirklichen Kompromisses mit den Palästinensern die innenpolitische Lage mehr als heftig werden.

Realistischerweise sehen die Voraussetzungen für Annapolis also ziemlich düster aus. In der Vergangenheit sprach man im Nahen Osten immer davon, dass ein Friede in dieser Region nur „ein Friede der Starken“ sein könne. Dieser „Friede der Starken“ ist aber in Camp David und Taba gescheitert. Jetzt unternehmen ganz offensichtlich Schwache einen erneuten Versuch.

Ein erfolgreicher „Friede der Schwachen“ wäre angesichts der politischen Umstände nichts weniger als ein Wunder. Aber im Nahen Osten soll es, so die Fama, in der Vergangenheit durchaus Wunder gegeben habe – sehr viele blaue und dann und wann sogar ein wirkliches.



Montag, 19. November 2007

Der Gaul vor dem Hindernis

Von Joschka Fischer

Regierungsumbildung in Berlin: Die SPD hat eine große Chance nicht genutzt

Normalerweise ist der November in unseren Breiten ein nebelverhangener Monat. Das Gegenteil gilt jedoch in diesem Jahr für die Bundespolitik. Es klärt sich die Sicht auf das weitere Schicksal der Großen Koalition und die Bundestagswahl 2009.

Denn am Abend des 12. November tagte im Berliner Kanzleramt die Koalitionsrunde und beerdigte, entgegen allen internen und öffentlichen Erwartungen, eine Einigung auf den sogenannten „kleinen“ Mindestlohn für Beschäftigte in Postunternehmen. Und am Morgen danach verkündete das wichtigste Mitglied des Kabinetts nach der Bundeskanzlerin, der sozialdemokratische Arbeitsminister Franz Müntefering, seinen Rücktritt aus familiären Gründen.

Franz Münteferings Entscheidung verdient Respekt und Anteilnahme. Zwischen den beiden Ereignissen bestand kein Zusammenhang. Dies kann man allerdings über deren Folgewirkungen für die Große Koalition im Allgemeinen und die SPD im Besonderen nicht behaupten. Denn mit Franz Müntefering ging die zentrale sozialdemokratische Figur in der Bundesregierung, auf der bisher, gemeinsam mit der Kanzlerin, die machtpolitische Architektur des Kabinetts Merkel ruhte.

Allein der Rücktritt von Franz Müntefering hätte schon eine tief gehende Erschütterung in der Konstruktion der Großen Koalition bedeutet. In Verbindung mit dem Scheitern der nächtlichen Koalitionsrunde ist es allerdings keine Übertreibung, wenn man einen inneren Bruch in der Koalition feststellt.

Denn die Kanzlerin hat gegenüber ihrem Koalitionspartner in der für diesen entscheidenden Sachfrage, in der man sich zuvor bereits auf einen Kompromiss geeinigt hatte - Mindestlohn nicht allgemein, sondern nur für den Tarifbereich der Postunternehmen -, ihr bereits gegebenes Wort zurückgenommen. Wenn aber auf das Wort der Regierungschefin in einer Koalition kein Verlass mehr ist, dann bricht Endzeitstimmung an; Koalitionen sind schon aus weit geringeren Gründen gescheitert.

Die Rollenverteilung zur Halbzeit der großen Koalition scheint klar zu sein: Den Unionsparteien geht es gut, der SPD hingegen schlecht, sehr schlecht sogar. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass alle an der Großen Koalition beteiligten Parteien in ihrem Innenleben mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben, die ihre Stabilität gefährden können. In der SPD ist dies nur zu offensichtlich, und dies gilt auch für den kleinsten Koalitionspartner, die CSU.

Erstaunlicherweise trifft dieser Befund aber auch für die nach außen so glänzend dastehende CDU zu. Warum? Die neoliberale Öffnung der Partei auf ihrem Leipziger Parteitag hätte sie 2005 fast den Wahlsieg gekostet, und seit diesem Schock fährt Angela Merkel strategisch eine steile Linkskurve. Das Herz der Mehrheit in Fraktion und Partei hängt aber nach wie vor an der neoliberalen Wende von Leipzig.

Diese Mehrheit erträgt oder erleidet die Rückwendung ihrer Parteivorsitzenden nach links mehr, als dass sie den neuen Kurs aus Überzeugung tragen würde. Der Mindestlohn wird eben nicht nur als ordnungspolitischer Sündenfall angesehen, sondern auch als ein Zuviel der strategischen Anpassung nach links.

Genau darin bestand das Problem der Angela Merkel vor jener Koalitionssitzung, in der sie ihre Zusage wieder einsammeln musste. Zudem hat sich eine ihrer entscheidenden publizistischen Stützen, der Axel Springer Verlag, massiv im privaten Postsektor engagiert. Auch dieses Faktum hat offensichtlich schwer gewogen. Angesichts dieser Umstände kann man daher weniger von einer Demonstration der Stärke durch die Bundeskanzlerin sprechen als vielmehr von einer Anpassung an die Macht der Verhältnisse.

Trotz aller hervorragenden Umfragedaten scheint die Achillesferse der Kanzlerin ihr keineswegs konflikterprobter Rückhalt in Partei und Fraktion zu bleiben. Helmut Kohl konnte Rückschläge, Niederlagen und sogar Putschversuche verkraften angesichts seiner starken Verankerung in seiner Partei. Für Angela Merkel bleibt es, da mag es allerlei Sonnenschein geben, aber dennoch nach wie vor ungewiss, ob sie eine ernsthafte Niederlage tatsächlich im Amt überstehen würde.

Ihr Gegenüber, der sozialdemokratische Parteivorsitzende Kurt Beck, hat diese Sorge nicht, dafür aber einen ganzen Berg anderer Misshelligkeiten. Seit vielen Monaten muss er gegen den Verfall der Zustimmung zu Partei und Person in der Wählerschaft kämpfen. Die Ursache für diesen Niedergang ist anhand der Umfragen sehr leicht zu benennen: die Linkspartei. Und damit lautet die eigentliche Herausforderung für Kurt Beck, den strategischen Fehler Gerhard Schröders erfolgreich zu korrigieren, den dieser beging, als er sich damals zu vorgezogenen Neuwahlen entschloss.

Blicken wir zurück: Die Rechnung von Gerhard Schröder war hoch riskant und wäre fast aufgegangen. Denn es ging ihm 2005 um einen Koalitionswechsel durch Neuwahlen (was gelungen ist) und unter einem sozialdemokratischen Kanzler (was sehr knapp verfehlt wurde). Der strategische Fehler dieser macht- und wahltaktischen Rechnung lag aber in dem Faktor Linkspartei, den Schröder nicht einkalkuliert hatte. Die SPD bezahlt seitdem für diesen Fehler einen hohen Preis, nämlich auf Dauer die CDU als stärkste Partei davonziehen zu sehen.

Kurt Beck blieb daher über kurz oder lang gar nichts anderes übrig, wenn er dem freien Fall seiner Partei nicht tatenlos zuschauen wollte, als Gerhard Schröders Fehler zu korrigieren und eine Öffnung nach links vorzunehmen. Zumal nach dem letzten Parteitag der CDU - Überraschung! - diese nun ebenfalls links von der SPD auftauchte. Denn man vergesse nicht, dass es die CDU und nicht die SPD gewesen war, die die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer wieder zum Thema gemacht hatte!

Mit der Entscheidung der SPD auf ihrem letzten Parteitag zum Arbeitslosengeld - in der Sache falsch, strategisch aber unabweisbar - hatte die SPD zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die CDU wurde links ausgebremst und der Kampf gegen die Linkspartei um die Wiedergewinnung der sozialen Meinungsführerschaft und damit abtrünnig gewordener Wähler eröffnet. Das Ziel dieser Strategie ist die Bundestagswahl 2009.

Kurt Beck allein ist heute das machtpolitische Schwergewicht der SPD und niemand anders. Umso unverständlicher erscheint in diesem Licht die Weigerung Kurt Becks, als Nachfolger von Franz Müntefering und als die unangefochtene Führungsfigur der SPD in das Bundeskabinett einzutreten. Denn an diesem Tisch wird die Vorentscheidung für den Ausgang der Bundestagswahl fallen und nicht im Koalitionsausschuss. Das Gegenargument, dass ein Parteivorsitzender jenseits der Kabinettsdisziplin mehr Handlungsfreiheit genieße, ist nicht ernsthaft belastbar, wenn man auf Sieg und nicht auf Platz in den kommenden Wahlen setzt.

Die SPD steht in den Umfragen seit den Bundestagswahlen schlecht da, aber das muss so nicht bleiben. Tatsächlich könnte sie für sich reklamieren, dass sie die schmerzhafte Sanierung Deutschlands erfolgreich angepackt habe und dass man genauso erfolgreich jetzt den zweiten Schritt, die Neugestaltung der sozialen Gerechtigkeit, in Angriff nehmen werde. Nach dem Fordern komme jetzt das Fördern - so könnte es die SPD mit gutem Recht erklären.

Mit einer solchen Argumentation hätte die Partei ihre Schachfiguren in mancherlei Hinsicht gut aufgestellt: gegenüber der Union, gegenüber der Linkspartei und selbst für eine zweite Runde einer möglichen Reformdebatte während einer sich abkühlenden Konjunktur. Selbst andere Koalitionsoptionen, wie eine Ampel, würden durch eine Strategie, die auf Sieg setzt, eher wahrscheinlich denn durch Abwarten.

Ganz grundsätzlich gesprochen: Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird auch die kommende Bundestagwahl 2009, wie ihre Vorgängerin, mit dem Gerechtigkeitsthema und damit links entschieden werden. Infolge dieser Faktoren sieht es für die Sozialdemokratie, alles in allem gesehen, besser aus, als es die heutige Lage nahelegt. Warum also so mutlos und unentschlossen?


In der Politik ist es wie beim Springreiten. Wenn ein Gaul den Sprung über eine Hürde verweigert, dann kann schon mal der Reiter kopfüber aus dem Sattel fliegen. Mit den Personalentscheidungen in der vergangenen Woche haben die Sozialdemokraten eine große Chance vertan. Denn mit der Aufteilung von Sach- und Machtfragen auf drei Personen wird das Bild der Partei unklar bleiben. Es sieht eben alles eher nach Platz denn nach Sieg aus. Und damit nach dem Fortbestand der Großen Koalition über das Jahr 2009 hinaus. Denn was sollten die Unionsparteien sonst anstreben, angesichts eines, wie abzusehen, Bundestages mit fünf Parteien? Andere Mehrheiten als die jetzige lassen sich aus heutiger Sicht für die Union nur mit Mühe vorstellen.

Das wiederum ist kein beruhigender Gedanke. Denn eine innerlich zerrüttete und deshalb nur bedingt handlungsfähige Große Koalition ist keine gute Perspektive für Deutschland, vor allem wenn wir über 2009 hinausblicken.

Montag, 12. November 2007

Gegen die Wand

Von Joschka Fischer

Pakistans Krise ist ein Menetekel für die westliche Politik. Stabilität entsteht nicht durch die Unterstützung des Diktators

Unsereins lernte noch anhand eines Gedichtes von Friedrich Schiller, dass sich im alten Babylon finstere Ereignisse per Flammenschrift an der Wand anzukündigen pflegten. In unseren Tagen bedarf es dazu allerdings keines jenseitigen Aufwandes mehr, sondern es reicht der tägliche Blick in die Nachrichten. Blicken wir nur auf die vergangenen zwei Wochen zurück:

Am östlichen Rand des nah- und mittelöstlichen Krisenbogens kam es in Pakistan zum zweiten Putsch des Generals Musharraf; im Westen dieser großen Region drohte eine Ausweitung des Konflikts im Irak durch einen militärischen Einmarsch der Türkei; in den USA wird die Rhetorik der Neokonservativen innerhalb und außerhalb der Regierung Bush, die zu einem militärischen Angriff auf Iran aufrufen (Dritter Weltkrieg! Vierter Weltkrieg! Wer wird es denn auch so genau nehmen wollen?), immer hitziger und militanter; und zur selben Zeit durchbrach der Preis für das Barrel Öl die 100-Dollar-Marke. Man könnte noch die Lage im Irak, in Afghanistan, im Libanon oder auch im israelisch-palästinensischen Konflikt hinzufügen, um das deprimierende Bild vom Zustand dieser krisengeschüttelten Region zu vervollständigen.

All diese Ereignisse und Krisen böten auch dann Anlass zur Sorge, wenn man in den westlichen Hauptstädten, vorneweg in Washington, Klarheit in der Analyse, Realismus in der Strategie und Geschlossenheit im Handeln unterstellen dürfte. Genau davon darf man aber nicht ausgehen. Und genau deswegen nehmen die Nachrichten aus der Region zwischen Indus und der Ostküste des Mittelmeers mehr und mehr den Charakter eines Menetekels für die westliche Politik an.

Der Blick zurück ist in dieser Lage lehrreich. Nimmt man den 11. September 2001 als Bezugsdatum, so wird klar, dass die Position des Westens seither keinesfalls gestärkt wurde, obwohl er an Ressourcen, Fähigkeiten und Legitimation allen Widersachern weit überlegen ist. Aber beklagenswerter Weise verhält sich die Anzahl der Fehler der westlichen Politik in den vergangenen sechs Jahren proportional zu seiner Überlegenheit, und darin liegt das eigentliche Problem. Das neokonservative Weltkriegsgetöse verdeckt die Tatsache, dass seit der verhängnisvollen Entscheidung von Präsident Bush, in den Irak einzumarschieren, der Westen faktisch eine Strategie der Selbstschwächung betreibt. Die westliche Politik in dieser Region läuft daher ernsthaft Gefahr, gegen die Wand zu fahren.

Ein Osama bin Laden hingegen kann sich behaglich den Bart streichen, wenn er den Gang der Ereignisse betrachtet, denn die Entwicklung läuft in seine Richtung. Radikalisierung, Terror und Chaos greifen in der gesamten Region um sich. Und genau das war das strategische Ziel der Terrorattacken vom 11. September 2001.

Analysieren wir die Ereignisse in Pakistan etwas näher: Mit dem erneuten Militärputsch von Musharraf droht nunmehr auch diese Nuklearmacht mit fast 200 Millionen Menschen in Richtung eines gescheiterten Staates wegzurutschen. Musharrafs Putsch richtete sich gegen den wachsenden Druck der demokratisch-zivilgesellschaftlichen Opposition und eben nicht gegen die islamistischen Radikalen, die mehr und mehr zu afghanischen Taliban werden. Objektiv war dies also ein anti-westlicher Militärputsch, da er sich gegen die Kräfte der Demokratie, des Rechts und der Modernisierung in Pakistan richtete.

Zudem wurde er aus der Schwäche des Militärregimes geboren, und das macht seine Folgen so gefährlich für die Zukunft des Landes und der Region. „Schwäche“ heißt in diesem Fall ein zunehmendes Legitimationsdefizit Präsident Musharrafs und der Herrschaft des Militärs. Genau dieser Mangel an Legitimation wird aber durch den Putsch verstärkt und nicht verringert.

Die eigentlichen Gewinner dieser Konfrontation werden die Radikalen sein. Pakistan und sein Geheimdienst ISI hatten über Jahre hinweg die afghanischen Taliban aufgebaut, ausgerüstet und gefördert. Nunmehr gerät es aber zunehmend in die Rolle des Zauberlehrlings, dem sein Besen außer Kontrolle geraten ist. Denn mittlerweile haben sich „pakistanische Taliban“ entwickelt, die in den Grenzgebieten zu Afghanistan und zunehmend auch im Norden des Landes über „befreite Gebiete“, also über eine territoriale Rückzugsbasis, verfügen. Und diese Entwicklung hält an.

Zudem bleibt es eine offene und wichtige Frage, wie weit und wie tief der Einfluss der pakistanischen Taliban in das Militär und in den ISI hineinreicht. Die in Pakistan kursierenden Informationen darüber geben wenig Anlass zu Hoffnung. Die militärische Unterdrückung des Aufstands in der Roten Moschee in Islamabad vor einigen Monaten scheint zudem die islamistischen Radikalen eher gestärkt als geschwächt zu haben, wie eine ganze Serie verheerender Attentate auf das Militär danach gezeigt hat. Und auch die Militäraktionen in den Nordwestprovinzen und in Belutschistan waren ein Fehlschlag und haben zu einer wachsenden Demoralisierung im Militär geführt.

Angesichts dieser jüngsten Ereignisse in Pakistan hat in den USA eine Diskussion begonnen, die mit viel Recht auf die Parallelität der Entwicklung in Pakistan mit der Entwicklung im Iran vor dem Sturz des Schahs von Persien im Jahr 1979 hinweist.

Heute wie damals war die fehlende Legitimation des Regimes dessen größte Schwäche; heute wie damals hat der Westen das Regime unterstützt, anstatt rechtzeitig auf eine demokratische Modernisierungsalternative zu setzen und zu ihrem Aufbau über die Jahre hinweg beizutragen; heute wie damals hatte er überhaupt kein Verständnis für die historische Kraft eines revolutionären Nationalismus in diesen Ländern, der sich zudem religiös aufgeladen hat; und heute wie damals wird der Westen und vor allem Amerika von einer wachsenden Mehrheit in diesen Ländern als die Kraft gesehen, die jene ins Wanken geratenen Regime mit mangelnder Legitimation an der Macht hält. Antiamerikanismus und der Hass auf den Westen wird dadurch zu einer weiteren Antriebsfeder eines revolutionären Nationalismus, und genau dies geschieht gegenwärtig ebenfalls in Pakistan.

Allerdings, Geschichte wiederholt sich nicht. Dies ist aber alles andere als eine beruhigende Erkenntnis, denn Pakistan verfügt über Atombomben und eine riesige Bevölkerung. Wenn dieses Land außer Kontrolle gerät, dann würde die iranische Revolution von 1979 dagegen nur einem milden Lüftchen gleichen. Und auch Afghanistan wäre dann endgültig verloren.

Der Einsatz, um den es in Pakistan regionalpolitisch und weltpolitisch geht, ist sehr hoch. Wenn der Westen nicht den Mut und die Einsicht aufbringt, jetzt, trotz aller Schwierigkeiten, auf die in Pakistan vorhandenen rechtsstaatlichen und demokratischen Kräfte zu setzen, die das Legitimationsdefizit des gegenwärtigen Regimes schließen können, dann werden eines nicht allzu fernen Tages die radikalen Islamisten das Vakuum füllen. Iran lässt grüßen. Auch deshalb ist jetzt die in Pakistan sichtbare und spürbare Solidarität des Westens mit all jenen Richtern, Rechtsanwälten und Journalisten - darunter sehr viele Frauen -, die von der Militärregierung ins Gefängnis geworfen werden, von entscheidender Bedeutung - anstelle von Solidaritätsadressen für Musharraf.