Montag, 10. März 2008

Blind in die Atomkrise?

Nukleare Abrüstung ist kein populäres Thema der Politik. Das könnte sich als verhängnisvoll erweisen.


In der Politik stimmt das subjektiv Wichtige mit dem objektiv Notwendigen nicht immer überein. Ganz besonders gilt dies gegenwärtig für die Ignoranz gegenüber einer der wahrscheinlich größten Bedrohungen, nämlich der Bedrohung durch Nuklearwaffen.

Als Außenminister Steinmeier vor wenigen Wochen auf der Münchner Sicherheitskonferenz auf dieses Risiko hingewiesen hatte und erneute Anstrengungen zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle gefordert hatte, da entsprach die Reaktion dem obigen Befund. Die Expertenrunde war nicht besonders interessiert und die breitere Öffentlichkeit in Deutschland nahm Steinmeiers Aufforderung wohl überhaupt nicht zur Kenntnis.

Bereits zuvor hatte sich in derselben Angelegenheit in den USA eine Gruppe sogenannter „elder statesmen“ – die ehemaligen Außen- und Verteidigungsminister George Shultz, Henry Kissinger, William Perry und der ehemalige Senator Sam Nunn - in einem gemeinsamen Artikel an die Öffentlichkeit gewandt. Unter der Überschrift: „Für eine Welt ohne Atomwaffen“ forderten sie einen fundamentalen Politikwechsel der USA in Richtung vollständiger nuklearer Abrüstung.

Dieser Artikel im Wall Street Journal war weniger bedeutsam wegen der darin enthaltenen Vorschläge, sondern sehr viel mehr wegen der Autoren, die sich den Vorschlag einer völligen nuklearen Abrüstung zu Eigen machten. Denn zumindest die drei ehemaligen Mitglieder verschiedener US-Regierungen während des Kalten Krieges waren bisher nicht dafür bekannt gewesen, dass sie sich für die völlige Abschaffung von Nuklearwaffen eingesetzt hätten.

Betrachtet man unter dem Gesichtspunkt der Nuklearrisiken die gegenwärtige internationale Lage, so kann man den Autoren nur voll zustimmen.

Denn erstens enthält das alte System der nuklearen Abschreckung, wie es vor allem in den USA und Russland seit dem Ende des Kalten Krieges überdauert hat, nach wie vor zahlreiche Risiken und Gefahren. Die Öffentlichkeit ignoriert heute zwar diese Tatsache weitestgehend, aber die Risiken sind dennoch existent.

Zwar wurden in den neunziger Jahren die vorhandenen Arsenale der beiden großen Nuklearmächte von ungefähr 65.000 Atomwaffen auf etwa 26.000 reduziert. Aber selbst diese Zahl ist schlichtweg unfassbar und jenseits jeder Rationalität. Hinzu kommen noch weitere rund 1000 Atomwaffen in den Händen der weiteren Nuklearwaffenstaaten.

Zweitens aber ist die Welt gegenwärtig dabei, ein neues nukleares Zeitalter zu betreten, das noch gefährlicher und teurer zu werden verspricht als die nukleare Abschreckung in den Zeiten des Kalten Krieges.

Die Konturen dieses neuen nuklearen Zeitalters sind bereits heute abzusehen: die Verbindung von Terrorismus und Nuklearwaffen; ein atomar gerüstetes Nordkorea; die Gefahr eines atomaren Rüstungswettlaufs im Nahen Osten, ausgelöst durch das iranische Atomprogramm; damit einhergehend eine Neudefinition von staatlicher Souveränität als „nuklearer Souveränität“, die mit einer massiven Ausweitung von kleinen und mittleren Nuklearwaffenstaaten einhergehen wird; ein möglicher Kollaps staatlicher Ordnung in der Nuklearmacht Pakistan; die illegale Weiterverbreitung von militärischer Atomtechnologie; die legale Weiterverbreitung von ziviler Nukleartechnologie und damit eine Vermehrung der „zivilen“ Atomstaaten mit allen weitergehenden Proliferationsrisiken; die Nuklearisierung des Weltraums und ein neuer Rüstungswettlauf zwischen den großen Atommächten.

Die Verantwortlichen in der internationalen Politik, an erster Stelle die beiden großen Nuklearmächte USA und Russland, kennen die bereits vorhandenen und die gegenwärtig neu hinzu kommenden Risiken nur zu gut. Um diese Risiken zu kontrollieren, einzudämmen oder gar ihrer Herr zu werden wurde allerdings nicht nur nichts unternommen, sondern ganz im Gegenteil wurde die Lage sogar noch verschärft.

Entscheidende Säulen des alten Rüstungskontroll- und Antiproliferationsregimes wurden entweder zerstört, wie der ABM-Vertrag, oder existenziell geschwächt, wie der Atomwaffensperrvertrag (NPT). Die Regierung Bush trägt hierfür die größte Verantwortung, denn sie hat mit der Kündigung des ABM-Vertrages nicht nur eine Schwächung des internationalen Kontrollsystems betrieben, sondern auch dem drohenden Zusammenbruch des Nichtweiterverbreitungsvertrages fast tatenlos zugesehen.

Die Weiterverbreitung von militärischer Atomtechnologie ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewiss eine der größten Bedrohungen für die Menschheit, vor allem, weil diese in terroristische Hände fallen könnte. Denn ein Nuklearwaffeneinsatz durch Terroristen würde nicht nur eine große humanitäre Tragödie nach sich ziehen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Welt über die Schwelle zum Atomkrieg treiben. Die Folgen wären ein Albtraum.

An zweiter Stelle in der Bedrohungsskala steht die nukleare Neudefinition von staatlicher Souveränität, denn diese würde nicht nur zu einer Vielzahl kleinerer, politisch höchst instabiler Nuklearmächte führen, sondern damit auch das Risiko der Weiterverbreitung in terroristische Hände erheblich vergrößern. Pakistan wäre dann kein Einzelfall mehr.

Um diesen und allen anderen bekannten Gefahren des neuen nuklearen Zeitalters wirksam und rechtzeitig entgegentreten zu können, bedürfte es jetzt einer internationalen Initiative zur Erneuerung und Verbesserung des internationalen Kontrollregimes, angeführt von den beiden großen Atommächten.

Das Signal zur Abrüstung und zur wirksamen Kontrolle muss von ganz oben, von den USA und Russland kommen, wenn es praktisch wirksam werden soll. Und an erster Stelle muss hier die Bereitschaft der Nuklearmächte stehen, ihre im Atomwaffensperrvertrag eingegangene Verpflichtung zur Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale auch tatsächlich umzusetzen.

Der NPT-Vertrag – einer der großen friedenssichernden internationalen Verträge über mehr als drei Jahrzehnte hinweg – beruht auf einem politischen Übereinkommen zwischen den wenigen Nuklearwaffenbesitzern und den vielen Staaten ohne Atomwaffen: Die Habenichtse verzichten auf Nuklearwaffen, während die Besitzer im Gegenzug ihre Arsenale vollständig abbauen. Leider wurde von dieser Übereinkunft nur der erste Teil erfüllt (und auch dieser nicht vollständig), während der zweite Teil der Übereinkunft noch immer seiner Erfüllung harrt.

Der NPT-Vertrag ist gleichermaßen unverzichtbar wie dringend überholungsbedürftig. Dieser zentrale Pfeiler der internationalen Nichtverbreitungskontrolle steht kurz vor seinem Kollaps. Die jüngste Überprüfungskonferenz im Mai 2005 in New York endete faktisch ergebnislos und war ein Desaster.

Eines der zentralen Defizite des Vertrages wird gerade im Nuklearstreit des Sicherheitsrates mit Iran gegenwärtig sichtbar: Der Vertrag erlaubt es nämlich, dass alle nuklearen Komponenten, die für eine militärische Nutzung notwendig sind – vorneweg die Urananreicherung - , unter den Regeln des Vertrages entwickelt werden dürfen, solange es nicht zu ihrer direkten militärischen Nutzung (Bau einer Atombombe) kommt. Damit trennt in den atomaren Schwellenstaaten aber lediglich noch eine einzige politische Entscheidung diese von einem militärischen Atomwaffenprogramm. Und eine solche „Sicherheit“ reicht nicht aus.

Zugleich hat mit dem iranischen Atomkonflikt ein altes Thema erneut an politischer Brisanz gewonnen, nämlich der diskriminierungsfreie Zugang zu Nukleartechnologie. Zu dessen Lösung wird es der Internationalisierung des Zugangs zu ziviler Nukleartechnologie bedürfen, verbunden mit der Schließung der oben erwähnten Sicherheitslücke unter dem existierenden NPT-Vertrag und wesentlich tiefer reichender Kontrollen für alle Staaten, die sich an einem solchen System beteiligen wollen.

Die Verantwortlichen in den Regierungen rund um den Globus kennen die Gefahren des neuen nuklearen Zeitalters und ebenso die meisten der notwendigen Antworten. Es mangelt aber am politischen Willen, weil die Öffentlichkeit in nuklearer Abrüstung und Rüstungskontrolle keine politische Priorität sieht. Genau dies muss sich deshalb ändern. Denn nukleare Abrüstung und atomare Nichtverbreitung sind keine Themen von gestern, sondern müssen heute praktisch Politik werden, wenn es morgen nicht hochgefährlich für alle werden soll.

Sonntag, 2. März 2008

Die neuen Regeln

Deutschland hat ein Fünfparteiensystem. Die SPD beginnt, sich darauf einzustellen. Der FDP und den Grünen wird ebenfalls nichts anderes übrig bleiben.

Die Landtagswahlen in Hessen und Hamburg haben sichtbar werden lassen, was sich seit Längerem angekündigt hatte, nämlich der Übergang vom bisherigen Vierparteiensystem der bundesrepublikanischen Demokratie zu einem Fünfparteiensystem (CDU und CSU werden hier als eine Partei betrachtet, was zwar nicht formal, wohl aber politisch zutrifft). Damit wurde zugleich auch die politische Ausgangslage für die Bundestagswahl im kommenden Jahr geklärt.

Dieser Übergang zum Fünfersystem kommt einer kleinen politischen Revolution gleich, weil sich dadurch die Grundparameter der Koalitionsbildung und der politischen Machtverteilung grundsätzlich ändern werden. Mit der zunehmenden Etablierung der Partei Die Linke in den westdeutschen Landtagen ist dieser Übergang zum Fünfparteiensystem eine Tatsache geworden, mit der langfristig gerechnet werden muss – definitiv für die Bundestagswahl 2009 und auch darüber hinaus.

Der Übergang vom alten Dreiparteiensystem zum Vierparteiensystem, der 1983 mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag begonnen hatte, war niemals ein solch fundamentaler Bruch, da er das vorhandene Parteiensystem lediglich in zwei Lager transformierte, die aber schon zuvor bestanden hatten. Das Fünfersystem hingegen bringt einen sehr viel tiefer und weiter reichenden Neuanfang.

Man hört jetzt allenthalben, dass Koalitionen den Inhalten zu folgen hätten, und das ist richtig. Aber genauso richtig ist es, dass, wenn die Inhalte dauerhaft neue Mehrheiten jenseits der Großen Koalition blockieren, sich dann entweder die Akteure aufeinander zu bewegen müssen oder dass diese Blockade eine andere Debatte anfachen wird, nämlich diejenige über eine Änderung des Wahlrechts.

Im Fünfparteienparlament werden die beiden traditionellen politischen Lager auf Bundesebene – Rot/Grün und Schwarz/Gelb – entweder ausgetrocknet, da sie keine kleine Koalition mehr bilden können. Denn solange Die Linke auf Bundesebene nicht regierungsfähig ist, blockiert diese fünfte Partei eine kleinkoalitionäre Mehrheitsbildung, sodass die Große Koalition zum Dauerzustand zu werden droht. Und auch in den westlichen Bundesländern werden kleine Koalitionen mit der Etablierung der Linken zwar nicht unmöglich, wohl aber immer schwieriger zu bilden sein. Für Ostdeutschland haben diese Lager eh noch nie gegolten.

Oder aber, zweite Möglichkeit, die Lagergrenzen werden in beide Richtungen überschritten. Und zwar entweder durch die FDP (rote Ampel) oder die Grünen (schwarze Ampel/Jamaika). Ein solcher Schritt wird inhaltlich jedoch nur schwierig zu machen sein und ist für die beiden kleinen Parteien zudem mit einem erheblichen Risiko verbunden.

Eine dritte Möglichkeit, nämlich die im Bundestag bestehende numerische Mehrheit des erweiterten linken Lagers (Rot-Rot-Grün), zu der es nach der jüngsten Bundestagswahl gekommen war, auch machtpolitisch zu aktualisieren, ist aus heutiger Sicht noch jenseits des politisch Machbaren.

Mit der Etablierung einer fünften Partei im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland wird die Bundestagswahl nicht mehr als Lagerwahlkampf erfolgreich zu führen sein, da es numerisch für die beiden Lager nicht mehr reichen wird. Zwar werden die Parteien den Wählerinnen und Wählern noch ihre jeweilige Lieblingspräferenz mitteilen, nur glauben wird ihnen diese niemand mehr. Insofern werden sich auch die klassischen Koalitionsaussagen erledigt haben.

Wer wird also mit wem in Zukunft Deutschland regieren? Diese zentrale politische Frage wird fortan wohl nicht mehr vorab zu entscheiden sein, sondern auf die Wahlnacht und die Feststellung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses vertagt werden. An die Stelle der Lager werden variable Konstellationen treten, die weniger vom erklärten politischen Willen der Beteiligten als vielmehr vom Wahlausgang abhängen werden.

Diese neuen Gesetze des Fünfparteiensystems werden zudem alle Parteien und ihr politisches Führungspersonal vor ungewohnte Herausforderungen stellen, welche die Gefahr eines Fehltritts mit möglicherweise fatalen Folgen für die jeweilige Partei mit sich bringen werden. Kurt Beck kann darüber gewiss ein garstig Lied singen.

Die Unionsparteien verfügen gegenwärtig im neuen Fünfersystem nur über zwei Optionen: die Große Koalition und Schwarz-Gelb (tatsächlich läuft dies aber 2009 im Bund nur auf die eine Option der großen Koalition hinaus). Die Union wird daher alles versuchen müssen, um erstens unter allen Umständen die stärkste Partei zu bleiben, denn nur dadurch kann sie sich das Kanzleramt und mithin ihre Machtposition in einer Großen Koalition sichern. Und zweitens muss sie ihre Optionen schleunigst vermehren. Auf Bundesebene heißt dies realistischerweise die „schwarze Ampel“. Beides sind allerdings schlechte Nachrichten für ihren Wunschpartner FDP.

Die SPD ist seit der vergangenen Bundestagswahl in fast allen aktuellen Umfragen deutlich schwächer als die CDU, verfügt aber im Gegensatz zur Union über mehr Koalitionsoptionen: Große Koalition, Ampel (Rheinland-Pfalz), Rot-Grün (Bremen) und Rot-Rot (Berlin). Die letztere Option kommt aber für den Bund 2009 noch nicht infrage. Also heißt die Machtperspektive der SPD für 2009 und jenseits der großen Koalition „rote Ampel“.

Auch die SPD wird in den kommenden Bundestagswahlen nichts zu verschenken haben und versuchen, ohne Rücksicht auf den kleineren Wunschpartner so stark wie möglich zu werden, für den Fall, dass sie doch wieder in einer Großen Koalition enden wird. Für den grünen Wunschpartner sind dies ebenfalls keine guten Nachrichten.

Ihr eigentliches Ziel für 2009 wird es aber sein (sofern sie auf Sieg und nicht auf Platz spielen wird, was angesichts der gegenwärtigen parteiinternen Kontroverse alles andere als entschieden ist), ihr Mehr an Optionen dann auch in einer SPD-geführten Koalition realisieren zu können. Dazu wird sie erstens mindestens eine funktionsfähige Dreierkoalition, nämlich die Ampel brauchen. Und zweitens – es wird oft vergessen, dass die Länder mittels des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken, mithin ein bundespolitischer Machtfaktor sind – muss die SPD im Gegensatz zur CDU die Mehrheit im Bundesrat zu ihren Gunsten ändern. Und das heißt nichts weniger, als Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün auch im Westen als akzeptierte Option durchzusetzen.

Verzichtet die SPD auf diese Öffnung, dann muss sie entweder auf ein Wunder hoffen, das nicht eintreten wird, nämlich dass die Linkspartei in absehbarer Zeit wieder verschwindet. Oder aber die Sozialdemokraten werden sich als Juniorpartner der CDU freiwillig in die ewige Gefangenschaft einer Großen Koalition begeben, und sich darin als Volkspartei endgültig auszehren. Im aktuellen Richtungsstreit in der SPD geht es daher schlicht um die Alternative: eigenständiger Machtanspruch oder Juniorpartner in der Großen Koalition, Sieg oder Platz bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr.

Die massiven Angriffe auf den Parteivorsitzenden der SPD aus seiner eigenen Partei erscheinen angesichts dieser Lage als bizarr kurzsichtig. Gewiss waren Timing und Vorgehensweise von Kurt Beck in der Causa Hessen alles andere als preiswürdig, aber in der Sache hat er völlig recht. Denn ohne eine Öffnung in Richtung Linkspartei wird die Zukunft der SPD im Fünfersystem sehr düster ausfallen. Und dass die SPD in Hamburg ohne Becks „Intervention“ wenige Tage vor der Wahl drei Prozent mehr Stimmen bekommen hätte, halte ich für schlichtes Wunschdenken.

Seit 1989/90 schleppt die SPD die Frage ungelöst mit sich herum, wie sie mit ihrem ungewollten Erbteil aus der deutschen Einheit, nämlich den ehemaligen Kommunisten der SED (später PDS) machtpolitisch umgehen soll. Isolieren oder einbinden? Die Unionsparteien und die Liberalen haben diese Frage für sich erst gar nicht erst öffentlich aufkommen lassen, sondern 1990 mit einem Federstrich ihre „Kommunisten“ aus den Blockparteien einfach übernommen und basta. Ganz anders verhielt sich dagegen die deutsche Sozialdemokratie.

In Ostdeutschland wurde sie auf Grund der Stärke der PDS recht früh in Koalitionen mit ihr gezwungen, wenn sie nicht in Großen Koalitionen oder in der Daueropposition enden wollte. Insofern musste sie mittels Koalitionsbildungen dort nachholen, was im Zuge der deutschen Einheit parteipolitisch versäumt worden war. Und diese Herausforderung besteht für die SPD bis zum heutigen Tag, gegenwärtig sogar mehr denn je.

Denn mit Gründung und anschließender gesamtdeutschen Etablierung der Linkspartei ist die Isolationsstrategie gescheitert. Zudem hat sich im Bundesland Berlin gezeigt, das seit mehreren Jahren von einem rot-roten Senat regiert wird, dass alle Befürchtungen von einer „Rückkehr des Sozialismus“ schlichter Quatsch sind. Ganz im Gegenteil steht der rot-rote Senat in Berlin für eine Politik der Haushaltssanierung, des Stellenabbaus im öffentlichen Dienst, der Umsetzung der Hartz-IV-Reformen und der Wirtschaftsfreundlichkeit, die man mit einigem Recht zutreffend als rechts von Rot-Grün charakterisieren kann. Von Sozialismus ist da weit und breit keine Spur zu finden.

Die letzten Landtagswahlen in Berlin haben zudem gezeigt, dass die PDS, einmal in der Verantwortung, nach vier Jahren in der Regierungsrealität erhebliche Stimmeneinbußen hinnehmen musste. Insofern erwies sich die Einbindungsstrategie aus sozialdemokratischer Sicht zumindest in Berlin als durchaus erfolgreich.

Die größten Schwierigkeiten und auch Risiken mit der „Neuen Deutschen Farbenlehre“ in der Politik dürften jedoch auf die bisherigen kleineren Wunschpartner der beiden großen Parteien zukommen, auf FDP und Grüne. Beide Parteien weisen unter diesem Gesichtspunkt eine erstaunlich große Schnittmenge an gemeinsamen Interessen im Fünfersystem auf:

Erstens verfügen beide über eine für sie wichtige, parlamentarisch vielleicht sogar überlebenswichtige Schnittmenge von potenziellen Wechselwählern, die eine spezifische Koalition und Politik wollen, die an das jeweilige Lager gebunden ist. Eine Überschreitung der Lagergrenzen wird daher beide Parteien einem hohen Risiko aussetzen, weil die rot-grünen und schwarz-gelben Wähler diesen Schritt nicht einfach mitmachen werden.

Die Lücke zwischen der politisch notwendigen Öffnung seitens der beiden Parteien und der Bereitschaft ihrer Wählerschaft, diesen Schritt nachzuvollziehen, kann für beide sehr gefährlich werden. Denn die Fallhöhe für FDP und Grüne bis zur Fünfprozenthürde ist nicht sehr hoch.

Zweitens müssen beide ein fast schon existenzielles Interesse daran haben, dass die Große Koalition nicht von Dauer ist. Schon nach zwei Jahren ist diese Koalition bereits inhaltlich erschöpft, denn die großen Parteien blockieren sich gegenseitig mehr, anstatt erfolgreich zusammenzuarbeiten.

Drittens müssen aus all diesen Gründen Grüne und FDP ein gemeinsames Interesse daran haben, das Risiko einer die Lagergrenzen überschreitenden Dreierkoalition nach 2009 für sich selbst wirksam zu begrenzen. Dies können beide Parteien allerdings nur, wenn sie zuerst ihre traditionelle Rivalität hinter sich lassen und sich glaubhaft in Richtung einer neuen inhaltlichen Zusammenarbeit bewegen. Den Vorrat an inhaltlichen Gemeinsamkeiten – etwa bei den Bürgerrechten, in der Außenpolitik und einigem mehr – gilt es jetzt auszuloten, wenn man nach 2009 eine Dreierkoalition als ernsthafte Option in Betracht zieht.

Weder darf in einer solchen Koalition einer der beiden kleineren Partner das Gefühl haben, das fünfte Rad am Wagen zu sein, denn dies würde zu einer sehr instabilen Koalition führen. Noch darf die Bildung einer roten oder schwarzen Ampel von relevanten Wählergruppen beider Parteien als „Verrat“ angesehen werden, sondern muss inhaltlich neue politische Möglichkeiten eröffnen und die politische Fantasie anregen. Machtkalküle allein und ein Überraschungscoup in der Wahlnacht oder kurz danach werden dazu nicht ausreichen und vermutlich zum Scheitern führen. Wohlgemerkt, die Alternative dazu heißt Große Koalition.

Man kann Deutschland nicht wünschen, dass nach 2009 diese Koalition weiter regieren wird. Dennoch ist diese Option im neuen Fünfersystem die wahrscheinlichste mangels bisher machbarer Alternativen in Gestalt einer Dreierkoalition. Die Konsequenz einer Großen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl wird für die beiden kleineren Parteien der langfristige Verlust der Gestaltungsmöglichkeiten auf Bundesebene sein. Es käme ein verstärkter Druck in Richtung eines Übergangs zum Mehrheitswahlrecht mit klaren Mehrheiten hinzu, dem ohne neue Koalitionsalternativen nur schwer zu entgehen sein wird. Damit aber würde perspektivisch die parlamentarische Existenz von FDP und Grünen infrage gestellt werden.