Montag, 11. Februar 2008

Frieden oder Recht?

Ob China und Russland ihre Modernisierung ohne Rechtsstaatlichkeit und Demokratie betreiben können, ist eine Frage von sicherheitspolitischer Bedeutung.
Von Joschka Fischer

Über zwei Jahrhunderte ist es mittlerweile her, seitdem die amerikanische und etwas später die französische Revolution die naturrechtliche Idee unveräußerlicher Menschenrechte hervorgebracht hatten. Trotz ihres universalistischen Anspruchs, für alle Menschen gleich und ungeteilt zu gelten, war dies zu jener Zeit aber keineswegs der Fall.

Bis diese Idee unveräußerlicher Grundrechte eines jeden Menschen sich zumindest theoretisch global durchgesetzt hatte, bedurfte es noch fast zweier weiterer Jahrhunderte, angefüllt mit Kriegen, politischen und sozialen Katastrophen und der Entkolonialisierung der Welt.

In ihren Anfängen war diese Idee der Menschenrechte auf die Innenpolitik beschränkt. Im Verkehr der Staaten untereinander zählte auch weiterhin nicht das Recht, sondern allein die Macht. Der klassische staatliche Souveränitätsbegriff war ausschließlich auf die Macht gestützt, auf die Kontrolle von Bevölkerung und Territorium. Wie zivil oder brutal, wie demokratisch oder autoritär diese Kontrolle jeweils durchgesetzt wurde, fiel unter die staatliche Souveränität.

Die erste große Veränderung des Verständnisses staatlicher Souveränität erfolgte mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Deutschen Reiches nach dem Ende des II. Weltkriegs. Zum ersten Mal wurde einer Staatsführung für ihre Verbrechen international der Prozess gemacht und wurden ihre Repräsentanten und Schergen zur Rechenschaft gezogen.

Zugleich signalisierten der Nürnberger Prozess und mit ihm die Gründung der Vereinten Nationen nebst ihrer Definition der Menschenrechte die wachsende Bedeutung des Rechts in den internationalen Beziehungen. Souveränität begründete sich nun nicht mehr nur allein aus Macht, sondern mehr und mehr auch aus dem Recht. Der Kalte Krieg fror dann allerdings diesen Prozess ein, über fünf Jahrzehnte hinweg.

Mit dem Völkermord in Ruanda und der humanitären Katastrophe auf dem Balkan in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand das Konzept der humanitären Intervention. In deren Gefolge setzte sich im Völkerrecht das „Recht auf Schutz“ und die „Pflicht zum Schutz“ vor staatlicher Willkür und Verbrechen an der eigenen Bevölkerung durch, auch wenn deren Umsetzung nach wie vor mehr als ungewiss ist. Diese Entwicklung in Politik und Völkerrecht führte schließlich zur Gründung des internationalen Strafgerichtshofs.

Die Grundidee der Moderne, auch die Macht der Staaten und ihrer Herrscher einer übergeordneten Herrschaft des Rechts zu unterwerfen und so die Rechte des einzelnen Menschen über die Souveränität der Macht zu stellen, hatte damit, getrieben von schrecklichen Erfahrungen, einen weiteren großen Schritt nach vorne gemacht.

Diese Entwicklung trat nun alles andere als zufällig ein. Im 20. Jahrhundert war man sich in Europa und den USA angesichts der totalitären Herausforderung von Faschismus und Kommunismus bewusst geworden, dass gerade unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung und die Demokratie im Innern auch die auswärtige Politik eines Staates ganz entscheidend bestimmten. Die Friedensfähigkeit von Demokratien erwies sich um Faktoren größer als die von autoritären Regimes oder gar Diktaturen.

Heute ist dieses Problem erneut aufgeworfen. Denn der Aufstieg von China und das Wiedererstarken Russlands scheinen zu demonstrieren, dass es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen politisch-kultureller und wirtschaftlicher Modernisierung gibt - und es fragt sich, was dies für die internationale Sicherheit bedeutet.

Gerade der atemberaubende wirtschaftliche Erfolg der Volksrepublik China scheint zu beweisen, dass es sehr erfolgreiche autoritäre Modernisierungsalternativen zur westlichen Verbindung von Freiheit, Demokratie, Herrschaft des Rechts und Marktwirtschaft geben kann. Dass ein Land also durchaus einer selektiven Modernisierung folgen kann, einer Modernisierung à la carte, in der es sich jeweils aussucht, welche Elemente der Moderne – Technologie, Wirtschaft, Infrastruktur, politische Institutionen, Werte und Normen – es umsetzen will und welche nicht. Und dass dies funktionieren könnte ...

Welch ein Irrtum! Die Vorstellung einer partiellen Modernisierung wird sich bereits auf mittlere Sicht als Illusion, ja durchaus als gefährliche Illusion erweisen, wie dies bereits die autoritären Modernisierungsalternativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Russland gezeigt haben.

Die Moderne gibt es auf mittlere Sicht ganz oder gar nicht, da sie durch den technologischen und sozialen Wandel in der Tiefe einer Gesellschaft Kräfte und Spannungen frei setzt, die auf Dauer ohne normative und institutionelle Antworten nicht aufgefangen werden können. Gewiss lassen sich diese Widersprüche eine ganze Zeit lang unterdrücken, aber der Preis dafür ist nur eine Anhäufung von gesellschaftlichen Widersprüchen, die früher oder später explodieren.

Bereits heute sind in beiden Systemen die Krankheitssymptome einer selektiven Modernisierung an der allumfassenden Korruption zu erkennen. Ohne eine unabhängige Justiz, unabhängige Medien und eine funktionierende Gewaltenteilung wird deshalb auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung nicht nachhaltig funktionieren. China beispielsweise bekommt zunehmend Probleme mit seinen Exporten wegen mangelnder Produktsicherheit, die in hohem Maße korruptionsbedingt ist. Ohne eine Entscheidung für eine freie Presse und eine unabhängige Justiz wird dieses Problemen zu- und nicht abnehmen.

Und auch Russlands „gelenkte“ (sprich: autoritäre) Modernisierung muss sich in naher Zukunft für die Herrschaft des Rechts und für eine funktionierende Gewaltenteilung entscheiden, oder das Land wird allein vom Öl- und Gaspreis und einem brutalen Kampf um Macht, Einfluss und Geld abhängig bleiben. Damit aber könnte der Niedergang russischer Macht nicht aufgehalten werden und das Land würde ein weiteres Mal, nach der Sowjetunion, an einer selektiven Modernisierung scheitern.

In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, in der es kein „Weit weg“ mehr gibt und eine globale Zweibahnstraße für alle Krisen und Konflikte existiert, wird eine solche partielle Modernisierung, die auf der Verdrängung von Konflikten und Spannungen beruht, die sie selbst ausgelöst hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weitaus gefährlichere Folgen haben, als dies für das 20. Jahrhundert gegolten hat.

Und da der große Krieg als Option, bedingt durch die gegenseitige thermonukleare Vernichtung der Weltmächte, nicht mehr wirklich besteht, werden sich die zunehmenden Spannungen und Widersprüche im Zeitalter der Globalisierung einen anderen Ausweg suchen: messianische Gewaltideologien, Terrorismus, zerfallende Staaten, nichtstaatliche Akteure, primitive Massenvernichtungswaffen und andere Formen der politischen und sozialen Desintegration werden neben den klassischen Konflikten zwischen Staaten und ihren Ursachen in Zukunft eine immer größere sicherheitspolitische Bedeutung erlangen.

Neben die klassische machtpolitische Bedrohung des Friedens tritt daher in der Gegenwart mehr und mehr die Gefährdung des (regionalen und globalen) Friedens durch politische und soziale Desintegration, durch den Verfall normativer, politischer und institutioneller Ordnungssysteme, und durch neue totalitäre Ideologien.

Genau deshalb erweist sich der Widerspruch zwischen sogenannten außenpolitischen „Realisten“ und „Idealisten“ oder zwischen „harter“ und „sanfter“ Macht als ein Gegensatz von Gestern. Die alte Interessenorientierung in der Politik der Staaten gilt zwar fort. Aber sie allein wird in Zukunft Frieden und Stabilität immer weniger garantieren können.

Menschenrechte und Sicherheit werden im 21. Jahrhundert unlösbar miteinander verbunden sein. Das ist ein Ergebnis der Globalisierung, des Realzusammenschlusses von 6,5 Milliarden Menschen in einer globalen Wirtschaft und einem globalen Staatensystem.

Sicherheit im 21. Jahrhundert wird deshalb weitaus mehr durch eine normative und institutionelle Modernisierung und durch wirtschaftliche und soziale Entwicklung gewährleistet als durch eine immer weitere Aufblähung der Militärhaushalte.

Freilich wird es im Extremfall ohne die militärische Absicherung dieser Modernisierungsbestrebungen nicht gehen. Wer das eine will, ohne für das andere zu sorgen und dann auch notfalls das Risiko eines militärischen Engagements einzugehen, der macht denselben Fehler wie diejenigen, die eine selektive Modernisierung betreiben: Er blendet die unangenehmen Aspekte der Modernisierung aus und wird dafür einen hohen Preis zu bezahlen haben.

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