Regierungsumbildung in Berlin: Die SPD hat eine große Chance nicht genutzt
Normalerweise ist der November in unseren Breiten ein nebelverhangener Monat. Das Gegenteil gilt jedoch in diesem Jahr für die Bundespolitik. Es klärt sich die Sicht auf das weitere Schicksal der Großen Koalition und die Bundestagswahl 2009.
Denn am Abend des 12. November tagte im Berliner Kanzleramt die Koalitionsrunde und beerdigte, entgegen allen internen und öffentlichen Erwartungen, eine Einigung auf den sogenannten „kleinen“ Mindestlohn für Beschäftigte in Postunternehmen. Und am Morgen danach verkündete das wichtigste Mitglied des Kabinetts nach der Bundeskanzlerin, der sozialdemokratische Arbeitsminister Franz Müntefering, seinen Rücktritt aus familiären Gründen.
Franz Münteferings Entscheidung verdient Respekt und Anteilnahme. Zwischen den beiden Ereignissen bestand kein Zusammenhang. Dies kann man allerdings über deren Folgewirkungen für die Große Koalition im Allgemeinen und die SPD im Besonderen nicht behaupten. Denn mit Franz Müntefering ging die zentrale sozialdemokratische Figur in der Bundesregierung, auf der bisher, gemeinsam mit der Kanzlerin, die machtpolitische Architektur des Kabinetts Merkel ruhte.
Allein der Rücktritt von Franz Müntefering hätte schon eine tief gehende Erschütterung in der Konstruktion der Großen Koalition bedeutet. In Verbindung mit dem Scheitern der nächtlichen Koalitionsrunde ist es allerdings keine Übertreibung, wenn man einen inneren Bruch in der Koalition feststellt.
Denn die Kanzlerin hat gegenüber ihrem Koalitionspartner in der für diesen entscheidenden Sachfrage, in der man sich zuvor bereits auf einen Kompromiss geeinigt hatte - Mindestlohn nicht allgemein, sondern nur für den Tarifbereich der Postunternehmen -, ihr bereits gegebenes Wort zurückgenommen. Wenn aber auf das Wort der Regierungschefin in einer Koalition kein Verlass mehr ist, dann bricht Endzeitstimmung an; Koalitionen sind schon aus weit geringeren Gründen gescheitert.
Die Rollenverteilung zur Halbzeit der großen Koalition scheint klar zu sein: Den Unionsparteien geht es gut, der SPD hingegen schlecht, sehr schlecht sogar. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass alle an der Großen Koalition beteiligten Parteien in ihrem Innenleben mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben, die ihre Stabilität gefährden können. In der SPD ist dies nur zu offensichtlich, und dies gilt auch für den kleinsten Koalitionspartner, die CSU.
Erstaunlicherweise trifft dieser Befund aber auch für die nach außen so glänzend dastehende CDU zu. Warum? Die neoliberale Öffnung der Partei auf ihrem Leipziger Parteitag hätte sie 2005 fast den Wahlsieg gekostet, und seit diesem Schock fährt Angela Merkel strategisch eine steile Linkskurve. Das Herz der Mehrheit in Fraktion und Partei hängt aber nach wie vor an der neoliberalen Wende von Leipzig.
Diese Mehrheit erträgt oder erleidet die Rückwendung ihrer Parteivorsitzenden nach links mehr, als dass sie den neuen Kurs aus Überzeugung tragen würde. Der Mindestlohn wird eben nicht nur als ordnungspolitischer Sündenfall angesehen, sondern auch als ein Zuviel der strategischen Anpassung nach links.
Genau darin bestand das Problem der Angela Merkel vor jener Koalitionssitzung, in der sie ihre Zusage wieder einsammeln musste. Zudem hat sich eine ihrer entscheidenden publizistischen Stützen, der Axel Springer Verlag, massiv im privaten Postsektor engagiert. Auch dieses Faktum hat offensichtlich schwer gewogen. Angesichts dieser Umstände kann man daher weniger von einer Demonstration der Stärke durch die Bundeskanzlerin sprechen als vielmehr von einer Anpassung an die Macht der Verhältnisse.
Trotz aller hervorragenden Umfragedaten scheint die Achillesferse der Kanzlerin ihr keineswegs konflikterprobter Rückhalt in Partei und Fraktion zu bleiben. Helmut Kohl konnte Rückschläge, Niederlagen und sogar Putschversuche verkraften angesichts seiner starken Verankerung in seiner Partei. Für Angela Merkel bleibt es, da mag es allerlei Sonnenschein geben, aber dennoch nach wie vor ungewiss, ob sie eine ernsthafte Niederlage tatsächlich im Amt überstehen würde.
Ihr Gegenüber, der sozialdemokratische Parteivorsitzende Kurt Beck, hat diese Sorge nicht, dafür aber einen ganzen Berg anderer Misshelligkeiten. Seit vielen Monaten muss er gegen den Verfall der Zustimmung zu Partei und Person in der Wählerschaft kämpfen. Die Ursache für diesen Niedergang ist anhand der Umfragen sehr leicht zu benennen: die Linkspartei. Und damit lautet die eigentliche Herausforderung für Kurt Beck, den strategischen Fehler Gerhard Schröders erfolgreich zu korrigieren, den dieser beging, als er sich damals zu vorgezogenen Neuwahlen entschloss.
Blicken wir zurück: Die Rechnung von Gerhard Schröder war hoch riskant und wäre fast aufgegangen. Denn es ging ihm 2005 um einen Koalitionswechsel durch Neuwahlen (was gelungen ist) und unter einem sozialdemokratischen Kanzler (was sehr knapp verfehlt wurde). Der strategische Fehler dieser macht- und wahltaktischen Rechnung lag aber in dem Faktor Linkspartei, den Schröder nicht einkalkuliert hatte. Die SPD bezahlt seitdem für diesen Fehler einen hohen Preis, nämlich auf Dauer die CDU als stärkste Partei davonziehen zu sehen.
Kurt Beck blieb daher über kurz oder lang gar nichts anderes übrig, wenn er dem freien Fall seiner Partei nicht tatenlos zuschauen wollte, als Gerhard Schröders Fehler zu korrigieren und eine Öffnung nach links vorzunehmen. Zumal nach dem letzten Parteitag der CDU - Überraschung! - diese nun ebenfalls links von der SPD auftauchte. Denn man vergesse nicht, dass es die CDU und nicht die SPD gewesen war, die die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer wieder zum Thema gemacht hatte!
Mit der Entscheidung der SPD auf ihrem letzten Parteitag zum Arbeitslosengeld - in der Sache falsch, strategisch aber unabweisbar - hatte die SPD zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die CDU wurde links ausgebremst und der Kampf gegen die Linkspartei um die Wiedergewinnung der sozialen Meinungsführerschaft und damit abtrünnig gewordener Wähler eröffnet. Das Ziel dieser Strategie ist die Bundestagswahl 2009.
Kurt Beck allein ist heute das machtpolitische Schwergewicht der SPD und niemand anders. Umso unverständlicher erscheint in diesem Licht die Weigerung Kurt Becks, als Nachfolger von Franz Müntefering und als die unangefochtene Führungsfigur der SPD in das Bundeskabinett einzutreten. Denn an diesem Tisch wird die Vorentscheidung für den Ausgang der Bundestagswahl fallen und nicht im Koalitionsausschuss. Das Gegenargument, dass ein Parteivorsitzender jenseits der Kabinettsdisziplin mehr Handlungsfreiheit genieße, ist nicht ernsthaft belastbar, wenn man auf Sieg und nicht auf Platz in den kommenden Wahlen setzt.
Die SPD steht in den Umfragen seit den Bundestagswahlen schlecht da, aber das muss so nicht bleiben. Tatsächlich könnte sie für sich reklamieren, dass sie die schmerzhafte Sanierung Deutschlands erfolgreich angepackt habe und dass man genauso erfolgreich jetzt den zweiten Schritt, die Neugestaltung der sozialen Gerechtigkeit, in Angriff nehmen werde. Nach dem Fordern komme jetzt das Fördern - so könnte es die SPD mit gutem Recht erklären.
Mit einer solchen Argumentation hätte die Partei ihre Schachfiguren in mancherlei Hinsicht gut aufgestellt: gegenüber der Union, gegenüber der Linkspartei und selbst für eine zweite Runde einer möglichen Reformdebatte während einer sich abkühlenden Konjunktur. Selbst andere Koalitionsoptionen, wie eine Ampel, würden durch eine Strategie, die auf Sieg setzt, eher wahrscheinlich denn durch Abwarten.
Ganz grundsätzlich gesprochen: Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird auch die kommende Bundestagwahl 2009, wie ihre Vorgängerin, mit dem Gerechtigkeitsthema und damit links entschieden werden. Infolge dieser Faktoren sieht es für die Sozialdemokratie, alles in allem gesehen, besser aus, als es die heutige Lage nahelegt. Warum also so mutlos und unentschlossen?
In der Politik ist es wie beim Springreiten. Wenn ein Gaul den Sprung über eine Hürde verweigert, dann kann schon mal der Reiter kopfüber aus dem Sattel fliegen. Mit den Personalentscheidungen in der vergangenen Woche haben die Sozialdemokraten eine große Chance vertan. Denn mit der Aufteilung von Sach- und Machtfragen auf drei Personen wird das Bild der Partei unklar bleiben. Es sieht eben alles eher nach Platz denn nach Sieg aus. Und damit nach dem Fortbestand der Großen Koalition über das Jahr 2009 hinaus. Denn was sollten die Unionsparteien sonst anstreben, angesichts eines, wie abzusehen, Bundestages mit fünf Parteien? Andere Mehrheiten als die jetzige lassen sich aus heutiger Sicht für die Union nur mit Mühe vorstellen.
Das wiederum ist kein beruhigender Gedanke. Denn eine innerlich zerrüttete und deshalb nur bedingt handlungsfähige Große Koalition ist keine gute Perspektive für Deutschland, vor allem wenn wir über 2009 hinausblicken.